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Keller, Gottfried: Das Sinngedicht. Berlin, 1882.

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wenigstens daran, nahm sich aber doch vor, die seltsamen
Damen aufzusuchen und sich das Bild zu verschaffen.
Den ersten Tag blieb er zu Hause; eh' es Abend wurde,
war Regine mehr als einmal von neuem in Trauer
und Angst verfallen, wenn sie sich auch immer wieder
zusammenraffte oder über dem Besitze des Mannes ihr
Gemüth sich aufhellte. Genug, Erwin fühlte, daß sie
nicht mehr die Gleiche sei, die sie gewesen, daß irgend
ein Etwas sich ereignet haben müsse. Ohne die verhoffte
Ruhe brachte er die Nacht zu, während die Frau schlief;
er wußte aber nicht, ob sie zum ersten Male wieder
den Schlaf fand oder stets geschlafen hatte.

Am zweiten Tage nach seiner Ankunft ging er auf
seine Gesandtschaft, um einige Verrichtungen zu besorgen,
die man ihm in Washington zur mündlichen Abwickelung
übertragen. Unter anderem gab es da obschwebende see¬
rechtliche Interessen, wegen welcher mit den brasilianischen
Diplomaten Rücksprache zu nehmen war, eh' bei den
europäischen Staaten vorgegangen wurde; übrigens han¬
delte es sich weder um ein entscheidendes Stadium, noch
um eine sehr große Bedeutung der Sache. Erwin trug
seinem Gesandten dasjenige vor, was sich auf unsern
Ort, wo wir lebten, bezog. Der Herr hatte Zahnweh
und ersuchte ihn, nur selbst zu den Brasilianern zu gehen
und in seinem Namen das Nöthige zu verhandeln. Erwin
ging hin, traf aber bloß einen Secretär. Der Gesandte
sei in Karlsbad, hieß es; doch habe der Attache Graf

wenigſtens daran, nahm ſich aber doch vor, die ſeltſamen
Damen aufzuſuchen und ſich das Bild zu verſchaffen.
Den erſten Tag blieb er zu Hauſe; eh' es Abend wurde,
war Regine mehr als einmal von neuem in Trauer
und Angſt verfallen, wenn ſie ſich auch immer wieder
zuſammenraffte oder über dem Beſitze des Mannes ihr
Gemüth ſich aufhellte. Genug, Erwin fühlte, daß ſie
nicht mehr die Gleiche ſei, die ſie geweſen, daß irgend
ein Etwas ſich ereignet haben müſſe. Ohne die verhoffte
Ruhe brachte er die Nacht zu, während die Frau ſchlief;
er wußte aber nicht, ob ſie zum erſten Male wieder
den Schlaf fand oder ſtets geſchlafen hatte.

Am zweiten Tage nach ſeiner Ankunft ging er auf
ſeine Geſandtſchaft, um einige Verrichtungen zu beſorgen,
die man ihm in Waſhington zur mündlichen Abwickelung
übertragen. Unter anderem gab es da obſchwebende ſee¬
rechtliche Intereſſen, wegen welcher mit den braſilianiſchen
Diplomaten Rückſprache zu nehmen war, eh' bei den
europäiſchen Staaten vorgegangen wurde; übrigens han¬
delte es ſich weder um ein entſcheidendes Stadium, noch
um eine ſehr große Bedeutung der Sache. Erwin trug
ſeinem Geſandten dasjenige vor, was ſich auf unſern
Ort, wo wir lebten, bezog. Der Herr hatte Zahnweh
und erſuchte ihn, nur ſelbſt zu den Braſilianern zu gehen
und in ſeinem Namen das Nöthige zu verhandeln. Erwin
ging hin, traf aber bloß einen Secretär. Der Geſandte
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[133/0143] wenigſtens daran, nahm ſich aber doch vor, die ſeltſamen Damen aufzuſuchen und ſich das Bild zu verſchaffen. Den erſten Tag blieb er zu Hauſe; eh' es Abend wurde, war Regine mehr als einmal von neuem in Trauer und Angſt verfallen, wenn ſie ſich auch immer wieder zuſammenraffte oder über dem Beſitze des Mannes ihr Gemüth ſich aufhellte. Genug, Erwin fühlte, daß ſie nicht mehr die Gleiche ſei, die ſie geweſen, daß irgend ein Etwas ſich ereignet haben müſſe. Ohne die verhoffte Ruhe brachte er die Nacht zu, während die Frau ſchlief; er wußte aber nicht, ob ſie zum erſten Male wieder den Schlaf fand oder ſtets geſchlafen hatte. Am zweiten Tage nach ſeiner Ankunft ging er auf ſeine Geſandtſchaft, um einige Verrichtungen zu beſorgen, die man ihm in Waſhington zur mündlichen Abwickelung übertragen. Unter anderem gab es da obſchwebende ſee¬ rechtliche Intereſſen, wegen welcher mit den braſilianiſchen Diplomaten Rückſprache zu nehmen war, eh' bei den europäiſchen Staaten vorgegangen wurde; übrigens han¬ delte es ſich weder um ein entſcheidendes Stadium, noch um eine ſehr große Bedeutung der Sache. Erwin trug ſeinem Geſandten dasjenige vor, was ſich auf unſern Ort, wo wir lebten, bezog. Der Herr hatte Zahnweh und erſuchte ihn, nur ſelbſt zu den Braſilianern zu gehen und in ſeinem Namen das Nöthige zu verhandeln. Erwin ging hin, traf aber bloß einen Secretär. Der Geſandte ſei in Karlsbad, hieß es; doch habe der Attaché Graf

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Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Das Sinngedicht. Berlin, 1882, S. 133. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_sinngedicht_1882/143>, abgerufen am 29.04.2024.