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Keller, Gottfried: Das Sinngedicht. Berlin, 1882.

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So und So die bezüglichen Acten an sich genommen und
studire sie soeben; er sei ohne Zweifel in der Lage, Auf¬
schluß zu ertheilen und entgegenzunehmen und Vorläufiges
anzuordnen. Um keine weitere Zeit zu verlieren, begab
sich Erwin ohne Aufenthalt zu dem Grafen, welcher eben
der uns'rige war. Die beiden Männer hatten sich noch
nie gesehen, weil der Brasilianer erst während Erwin's
Abwesenheit an die Stelle gekommen war. Der Süd¬
amerikaner begrüßte den nördlichen Mann unbefangen,
sagte, er habe das Vergnügen, dessen Gemahlin zu kennen,
und fragte nach ihrem Befinden. Dann ging die geschäft¬
liche Unterredung vor sich, welche etwa eine halbe Stunde
dauerte. Erwin war nicht, was man im gemeinen Sinne
eifersüchtig nennt; daher war ihm die Bekanntschaft
des Grafen mit seiner Frau nicht aufgefallen, trotz der
schwarzäugigen Romantik; er hatte seine Häuslichkeit
über der gemächlichen Verhandlung vergessen und ging
jetzt vollkommen ruhig an der Seite des Grafen, der ihn
hinaus begleitete. Wieder, wie in New-York, leuchtete
plötzlich ein Bild auf, das er vorher nicht gesehen. Neben
der Zimmerthüre, welcher er bisher den Rücken gekehrt,
stand ein Ziertischchen und auf demselben, an die Wand
gelehnt, ein kleines Oelbild in breitem, krausgeschnitztem
Goldrahmen. Es war die Figur von Erwin's Frau, wie
er sie bei seiner Rückkunft im Schlafzimmer angetroffen.
Die Malerin hatte doch die Rücksicht genommen, das
Gesicht unkenntlich zu machen, d. h. dasjenige eines andern

So und So die bezüglichen Acten an ſich genommen und
ſtudire ſie ſoeben; er ſei ohne Zweifel in der Lage, Auf¬
ſchluß zu ertheilen und entgegenzunehmen und Vorläufiges
anzuordnen. Um keine weitere Zeit zu verlieren, begab
ſich Erwin ohne Aufenthalt zu dem Grafen, welcher eben
der unſ'rige war. Die beiden Männer hatten ſich noch
nie geſehen, weil der Braſilianer erſt während Erwin's
Abweſenheit an die Stelle gekommen war. Der Süd¬
amerikaner begrüßte den nördlichen Mann unbefangen,
ſagte, er habe das Vergnügen, deſſen Gemahlin zu kennen,
und fragte nach ihrem Befinden. Dann ging die geſchäft¬
liche Unterredung vor ſich, welche etwa eine halbe Stunde
dauerte. Erwin war nicht, was man im gemeinen Sinne
eiferſüchtig nennt; daher war ihm die Bekanntſchaft
des Grafen mit ſeiner Frau nicht aufgefallen, trotz der
ſchwarzäugigen Romantik; er hatte ſeine Häuslichkeit
über der gemächlichen Verhandlung vergeſſen und ging
jetzt vollkommen ruhig an der Seite des Grafen, der ihn
hinaus begleitete. Wieder, wie in New-York, leuchtete
plötzlich ein Bild auf, das er vorher nicht geſehen. Neben
der Zimmerthüre, welcher er bisher den Rücken gekehrt,
ſtand ein Ziertiſchchen und auf demſelben, an die Wand
gelehnt, ein kleines Oelbild in breitem, krausgeſchnitztem
Goldrahmen. Es war die Figur von Erwin's Frau, wie
er ſie bei ſeiner Rückkunft im Schlafzimmer angetroffen.
Die Malerin hatte doch die Rückſicht genommen, das
Geſicht unkenntlich zu machen, d. h. dasjenige eines andern

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[134/0144] So und So die bezüglichen Acten an ſich genommen und ſtudire ſie ſoeben; er ſei ohne Zweifel in der Lage, Auf¬ ſchluß zu ertheilen und entgegenzunehmen und Vorläufiges anzuordnen. Um keine weitere Zeit zu verlieren, begab ſich Erwin ohne Aufenthalt zu dem Grafen, welcher eben der unſ'rige war. Die beiden Männer hatten ſich noch nie geſehen, weil der Braſilianer erſt während Erwin's Abweſenheit an die Stelle gekommen war. Der Süd¬ amerikaner begrüßte den nördlichen Mann unbefangen, ſagte, er habe das Vergnügen, deſſen Gemahlin zu kennen, und fragte nach ihrem Befinden. Dann ging die geſchäft¬ liche Unterredung vor ſich, welche etwa eine halbe Stunde dauerte. Erwin war nicht, was man im gemeinen Sinne eiferſüchtig nennt; daher war ihm die Bekanntſchaft des Grafen mit ſeiner Frau nicht aufgefallen, trotz der ſchwarzäugigen Romantik; er hatte ſeine Häuslichkeit über der gemächlichen Verhandlung vergeſſen und ging jetzt vollkommen ruhig an der Seite des Grafen, der ihn hinaus begleitete. Wieder, wie in New-York, leuchtete plötzlich ein Bild auf, das er vorher nicht geſehen. Neben der Zimmerthüre, welcher er bisher den Rücken gekehrt, ſtand ein Ziertiſchchen und auf demſelben, an die Wand gelehnt, ein kleines Oelbild in breitem, krausgeſchnitztem Goldrahmen. Es war die Figur von Erwin's Frau, wie er ſie bei ſeiner Rückkunft im Schlafzimmer angetroffen. Die Malerin hatte doch die Rückſicht genommen, das Geſicht unkenntlich zu machen, d. h. dasjenige eines andern

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Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Das Sinngedicht. Berlin, 1882, S. 134. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_sinngedicht_1882/144>, abgerufen am 29.04.2024.