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Keller, Gottfried: Das Sinngedicht. Berlin, 1882.

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Modells hinzumalen; allein Erwin erkannte den Seiden¬
stoff und die ganze Erscheinung auf den ersten Blick.
Die dämonische Malerin hatte ihr zum Ueberfluß beide
Hände an das Hinterhaupt gelegt, wie Erwin sie mit dem
Haar beschäftigt zuerst gesehen.

Er trat mit einem Schritte vor das Tischchen und ließ
die Augen an dem Bild haften, indessen es vor denselben
in einen Nebel zerfloß und sich wieder herstellte, ab¬
wechselnd, man könnte sagen, wie Aphrodite aus dem
Dunst und Schaum des Meeres. Er wagte nicht weg¬
zublicken, noch den Grafen anzusehen, und doch war es
ihm zu Muth wie einem Ertrinkenden. Aber zum Glück
jagten sich die Vorstellungen eben so schnell, als es bei
einem solchen geschehen soll. Es war immer eine Möglich¬
keit, daß der Graf nicht wußte, was er besaß; warum
also am unrechten Orte sich selbst und die Frau verrathen?
Nöthigen Falls konnte er ja wieder kommen und den
Feind seiner Ehre im Angesicht des Bildes niederstoßen.
Aber müßte nicht das Weib vorher gerichtet, vielleicht
vernichtet sein? Denn ein böser Zusammenhang wird
immer deutlicher, woher sonst das elende Wesen im Hause?
Was ist indessen mit einer solchen Vernichtung gewonnen,
und wer ist der Richter? Ich, der ich ein junges, rath¬
loses Geschöpf fast ein Jahr lang allein lasse?

So war vielleicht eine Minute vergangen, eine von
den scheinbar zahllosen und doch so wenigen, die wir zu
leben haben. Plötzlich faßte er sich gewaltsam zusammen,

Modells hinzumalen; allein Erwin erkannte den Seiden¬
ſtoff und die ganze Erſcheinung auf den erſten Blick.
Die dämoniſche Malerin hatte ihr zum Ueberfluß beide
Hände an das Hinterhaupt gelegt, wie Erwin ſie mit dem
Haar beſchäftigt zuerſt geſehen.

Er trat mit einem Schritte vor das Tiſchchen und ließ
die Augen an dem Bild haften, indeſſen es vor denſelben
in einen Nebel zerfloß und ſich wieder herſtellte, ab¬
wechſelnd, man könnte ſagen, wie Aphrodite aus dem
Dunſt und Schaum des Meeres. Er wagte nicht weg¬
zublicken, noch den Grafen anzuſehen, und doch war es
ihm zu Muth wie einem Ertrinkenden. Aber zum Glück
jagten ſich die Vorſtellungen eben ſo ſchnell, als es bei
einem ſolchen geſchehen ſoll. Es war immer eine Möglich¬
keit, daß der Graf nicht wußte, was er beſaß; warum
alſo am unrechten Orte ſich ſelbſt und die Frau verrathen?
Nöthigen Falls konnte er ja wieder kommen und den
Feind ſeiner Ehre im Angeſicht des Bildes niederſtoßen.
Aber müßte nicht das Weib vorher gerichtet, vielleicht
vernichtet ſein? Denn ein böſer Zuſammenhang wird
immer deutlicher, woher ſonſt das elende Weſen im Hauſe?
Was iſt indeſſen mit einer ſolchen Vernichtung gewonnen,
und wer iſt der Richter? Ich, der ich ein junges, rath¬
loſes Geſchöpf faſt ein Jahr lang allein laſſe?

So war vielleicht eine Minute vergangen, eine von
den ſcheinbar zahlloſen und doch ſo wenigen, die wir zu
leben haben. Plötzlich faßte er ſich gewaltſam zuſammen,

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[135/0145] Modells hinzumalen; allein Erwin erkannte den Seiden¬ ſtoff und die ganze Erſcheinung auf den erſten Blick. Die dämoniſche Malerin hatte ihr zum Ueberfluß beide Hände an das Hinterhaupt gelegt, wie Erwin ſie mit dem Haar beſchäftigt zuerſt geſehen. Er trat mit einem Schritte vor das Tiſchchen und ließ die Augen an dem Bild haften, indeſſen es vor denſelben in einen Nebel zerfloß und ſich wieder herſtellte, ab¬ wechſelnd, man könnte ſagen, wie Aphrodite aus dem Dunſt und Schaum des Meeres. Er wagte nicht weg¬ zublicken, noch den Grafen anzuſehen, und doch war es ihm zu Muth wie einem Ertrinkenden. Aber zum Glück jagten ſich die Vorſtellungen eben ſo ſchnell, als es bei einem ſolchen geſchehen ſoll. Es war immer eine Möglich¬ keit, daß der Graf nicht wußte, was er beſaß; warum alſo am unrechten Orte ſich ſelbſt und die Frau verrathen? Nöthigen Falls konnte er ja wieder kommen und den Feind ſeiner Ehre im Angeſicht des Bildes niederſtoßen. Aber müßte nicht das Weib vorher gerichtet, vielleicht vernichtet ſein? Denn ein böſer Zuſammenhang wird immer deutlicher, woher ſonſt das elende Weſen im Hauſe? Was iſt indeſſen mit einer ſolchen Vernichtung gewonnen, und wer iſt der Richter? Ich, der ich ein junges, rath¬ loſes Geſchöpf faſt ein Jahr lang allein laſſe? So war vielleicht eine Minute vergangen, eine von den ſcheinbar zahlloſen und doch ſo wenigen, die wir zu leben haben. Plötzlich faßte er ſich gewaltſam zuſammen,

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Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Das Sinngedicht. Berlin, 1882, S. 135. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_sinngedicht_1882/145>, abgerufen am 29.04.2024.