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Keller, Gottfried: Das Sinngedicht. Berlin, 1882.

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sah den Grafen flüchtig an und sagte, ohne den Mund
zu verziehen: "Sie haben da ein hübsches Bildchen!"

"Ich habe es in einem hiesigen Atelier gekauft," sagte
der Andere, "es soll nach dem Leben gemalt sein!"

Sie schüttelten sich mit der bei Diplomaten üblichen
Herzlichkeit die Hand und Erwin zog seines Weges. Er
ging aber nicht in seine Behausung, auch nicht zu der
Malerin oder zu den Parzen, wie er früher Willens
gewesen, noch auch zu mir oder sonst zu Jemandem, son¬
dern er lief eine Stunde weit auf der heißen Landstraße
vor das Thor hinaus, genau bis zum ersten Stunden¬
zeiger, und von da wieder zurück. In dieser Zeit wollte
er mit seinem Entschlusse im Reinen sein und dann um
kein Jota davon abgehen; kein Fremder sollte davon
wissen oder darein reden.

In der Mittagshitze, im Staube der Straße, unter
den Wolken des Himmels, im Angesichte mühseliger
Wandersleute, die ihres Weges zogen, müder Lastthiere,
heimwärts eilender Feldarbeiter ließ er die Frau unsichtbar
neben sich gehen, um die traurige Gerichtsverhandlung
so zu sagen unter allem Volke mit ihr zu führen. Es
bedünkte ihn in der That beinahe, als seh' er sie mühsam
an seiner Seite wandeln, nach Antwort auf seine Fragen
suchend, und seine Bitterkeit wurde von Mitleiden um¬
hüllt, aber nicht versüßt.

Als er an das Stadtthor zurückkam, war sein Be¬
schluß fertig, wenn auch nicht das Urtheil. Er wollte nicht

ſah den Grafen flüchtig an und ſagte, ohne den Mund
zu verziehen: „Sie haben da ein hübſches Bildchen!“

„Ich habe es in einem hieſigen Atelier gekauft,“ ſagte
der Andere, „es ſoll nach dem Leben gemalt ſein!“

Sie ſchüttelten ſich mit der bei Diplomaten üblichen
Herzlichkeit die Hand und Erwin zog ſeines Weges. Er
ging aber nicht in ſeine Behauſung, auch nicht zu der
Malerin oder zu den Parzen, wie er früher Willens
geweſen, noch auch zu mir oder ſonſt zu Jemandem, ſon¬
dern er lief eine Stunde weit auf der heißen Landſtraße
vor das Thor hinaus, genau bis zum erſten Stunden¬
zeiger, und von da wieder zurück. In dieſer Zeit wollte
er mit ſeinem Entſchluſſe im Reinen ſein und dann um
kein Jota davon abgehen; kein Fremder ſollte davon
wiſſen oder darein reden.

In der Mittagshitze, im Staube der Straße, unter
den Wolken des Himmels, im Angeſichte mühſeliger
Wandersleute, die ihres Weges zogen, müder Laſtthiere,
heimwärts eilender Feldarbeiter ließ er die Frau unſichtbar
neben ſich gehen, um die traurige Gerichtsverhandlung
ſo zu ſagen unter allem Volke mit ihr zu führen. Es
bedünkte ihn in der That beinahe, als ſeh' er ſie mühſam
an ſeiner Seite wandeln, nach Antwort auf ſeine Fragen
ſuchend, und ſeine Bitterkeit wurde von Mitleiden um¬
hüllt, aber nicht verſüßt.

Als er an das Stadtthor zurückkam, war ſein Be¬
ſchluß fertig, wenn auch nicht das Urtheil. Er wollte nicht

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[136/0146] ſah den Grafen flüchtig an und ſagte, ohne den Mund zu verziehen: „Sie haben da ein hübſches Bildchen!“ „Ich habe es in einem hieſigen Atelier gekauft,“ ſagte der Andere, „es ſoll nach dem Leben gemalt ſein!“ Sie ſchüttelten ſich mit der bei Diplomaten üblichen Herzlichkeit die Hand und Erwin zog ſeines Weges. Er ging aber nicht in ſeine Behauſung, auch nicht zu der Malerin oder zu den Parzen, wie er früher Willens geweſen, noch auch zu mir oder ſonſt zu Jemandem, ſon¬ dern er lief eine Stunde weit auf der heißen Landſtraße vor das Thor hinaus, genau bis zum erſten Stunden¬ zeiger, und von da wieder zurück. In dieſer Zeit wollte er mit ſeinem Entſchluſſe im Reinen ſein und dann um kein Jota davon abgehen; kein Fremder ſollte davon wiſſen oder darein reden. In der Mittagshitze, im Staube der Straße, unter den Wolken des Himmels, im Angeſichte mühſeliger Wandersleute, die ihres Weges zogen, müder Laſtthiere, heimwärts eilender Feldarbeiter ließ er die Frau unſichtbar neben ſich gehen, um die traurige Gerichtsverhandlung ſo zu ſagen unter allem Volke mit ihr zu führen. Es bedünkte ihn in der That beinahe, als ſeh' er ſie mühſam an ſeiner Seite wandeln, nach Antwort auf ſeine Fragen ſuchend, und ſeine Bitterkeit wurde von Mitleiden um¬ hüllt, aber nicht verſüßt. Als er an das Stadtthor zurückkam, war ſein Be¬ ſchluß fertig, wenn auch nicht das Urtheil. Er wollte nicht

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Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Das Sinngedicht. Berlin, 1882, S. 136. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_sinngedicht_1882/146>, abgerufen am 29.04.2024.