Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Keller, Gottfried: Das Sinngedicht. Berlin, 1882.

Bild:
<< vorherige Seite

den Stab, sondern die ganze Geschichte über'm Knie
brechen, die Frau über's Meer entführen und der Zeit
die Aufklärung des Unheils überlassen. Auch gegen
Reginen wollte er schweigen, gewärtig, ob sie Recht und
Kraft zur freien Rede aus sich selber schöpfe, und je nach
Beschaffenheit würde sich dann das Weitere ergeben.
Unterdessen sollte die stumme Trennung, die zwischen sie
getreten, ihr nicht verborgen bleiben und sie fühlen, daß
die Entscheidung nur aufgeschoben sei.

Mit diesem Vorsatze trat er wieder in sein Haus,
wo er Reginen nicht fand. Ihr war erst seit Erwin's
Ausgang das Bedenkliche und Unzulässige des Vorfalls
mit dem Bilde schwer in's Gewissen gefallen; Blick und
Wort Erwin's hatten sie getroffen und die Dämmerung
ihres Bewußtseins plötzlich erleuchtet. Von Angst erfüllt
war sie fortgeeilt, zunächst zur Malerin, das Bild von
ihr zu fordern. Sie suchte Ausflüchte, versprach es zu
schicken oder selbst zu bringen, und gedrängt von der
Flehenden, sagte sie endlich, das Bild müsse bei einer
der drei Damen sein (der Parzen nämlich), jedenfalls sei
es gut aufgehoben und in sicheren Händen. Regine lief
zum sogenannten Bienchen, zur Sammetgazelle, zum
Rothkäppchen, keine wollte etwas von dem Bilde wissen,
jede lächelte zuerst verwundert und jede erhob dann einen
dummen Lärm und wollte durchaus die Aermste auf der
Jagd nach ihrem Bildniß geräuschvoll weiter begleiten.

Unverrichteter Sache, aber mit doppelter Last beladen

den Stab, ſondern die ganze Geſchichte über'm Knie
brechen, die Frau über's Meer entführen und der Zeit
die Aufklärung des Unheils überlaſſen. Auch gegen
Reginen wollte er ſchweigen, gewärtig, ob ſie Recht und
Kraft zur freien Rede aus ſich ſelber ſchöpfe, und je nach
Beſchaffenheit würde ſich dann das Weitere ergeben.
Unterdeſſen ſollte die ſtumme Trennung, die zwiſchen ſie
getreten, ihr nicht verborgen bleiben und ſie fühlen, daß
die Entſcheidung nur aufgeſchoben ſei.

Mit dieſem Vorſatze trat er wieder in ſein Haus,
wo er Reginen nicht fand. Ihr war erſt ſeit Erwin's
Ausgang das Bedenkliche und Unzuläſſige des Vorfalls
mit dem Bilde ſchwer in's Gewiſſen gefallen; Blick und
Wort Erwin's hatten ſie getroffen und die Dämmerung
ihres Bewußtſeins plötzlich erleuchtet. Von Angſt erfüllt
war ſie fortgeeilt, zunächſt zur Malerin, das Bild von
ihr zu fordern. Sie ſuchte Ausflüchte, verſprach es zu
ſchicken oder ſelbſt zu bringen, und gedrängt von der
Flehenden, ſagte ſie endlich, das Bild müſſe bei einer
der drei Damen ſein (der Parzen nämlich), jedenfalls ſei
es gut aufgehoben und in ſicheren Händen. Regine lief
zum ſogenannten Bienchen, zur Sammetgazelle, zum
Rothkäppchen, keine wollte etwas von dem Bilde wiſſen,
jede lächelte zuerſt verwundert und jede erhob dann einen
dummen Lärm und wollte durchaus die Aermſte auf der
Jagd nach ihrem Bildniß geräuſchvoll weiter begleiten.

Unverrichteter Sache, aber mit doppelter Laſt beladen

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0147" n="137"/>
den Stab, &#x017F;ondern die ganze Ge&#x017F;chichte über'm Knie<lb/>
brechen, die Frau über's Meer entführen und der Zeit<lb/>
die Aufklärung des Unheils überla&#x017F;&#x017F;en. Auch gegen<lb/>
Reginen wollte er &#x017F;chweigen, gewärtig, ob &#x017F;ie Recht und<lb/>
Kraft zur freien Rede aus &#x017F;ich &#x017F;elber &#x017F;chöpfe, und je nach<lb/>
Be&#x017F;chaffenheit würde &#x017F;ich dann das Weitere ergeben.<lb/>
Unterde&#x017F;&#x017F;en &#x017F;ollte die &#x017F;tumme Trennung, die zwi&#x017F;chen &#x017F;ie<lb/>
getreten, ihr nicht verborgen bleiben und &#x017F;ie fühlen, daß<lb/>
die Ent&#x017F;cheidung nur aufge&#x017F;choben &#x017F;ei.</p><lb/>
          <p>Mit die&#x017F;em Vor&#x017F;atze trat er wieder in &#x017F;ein Haus,<lb/>
wo er Reginen nicht fand. Ihr war er&#x017F;t &#x017F;eit Erwin's<lb/>
Ausgang das Bedenkliche und Unzulä&#x017F;&#x017F;ige des Vorfalls<lb/>
mit dem Bilde &#x017F;chwer in's Gewi&#x017F;&#x017F;en gefallen; Blick und<lb/>
Wort Erwin's hatten &#x017F;ie getroffen und die Dämmerung<lb/>
ihres Bewußt&#x017F;eins plötzlich erleuchtet. Von Ang&#x017F;t erfüllt<lb/>
war &#x017F;ie fortgeeilt, zunäch&#x017F;t zur Malerin, das Bild von<lb/>
ihr zu fordern. Sie &#x017F;uchte Ausflüchte, ver&#x017F;prach es zu<lb/>
&#x017F;chicken oder &#x017F;elb&#x017F;t zu bringen, und gedrängt von der<lb/>
Flehenden, &#x017F;agte &#x017F;ie endlich, das Bild mü&#x017F;&#x017F;e bei einer<lb/>
der drei Damen &#x017F;ein (der Parzen nämlich), jedenfalls &#x017F;ei<lb/>
es gut aufgehoben und in &#x017F;icheren Händen. Regine lief<lb/>
zum &#x017F;ogenannten Bienchen, zur Sammetgazelle, zum<lb/>
Rothkäppchen, keine wollte etwas von dem Bilde wi&#x017F;&#x017F;en,<lb/>
jede lächelte zuer&#x017F;t verwundert und jede erhob dann einen<lb/>
dummen Lärm und wollte durchaus die Aerm&#x017F;te auf der<lb/>
Jagd nach ihrem Bildniß geräu&#x017F;chvoll weiter begleiten.</p><lb/>
          <p>Unverrichteter Sache, aber mit doppelter La&#x017F;t beladen<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[137/0147] den Stab, ſondern die ganze Geſchichte über'm Knie brechen, die Frau über's Meer entführen und der Zeit die Aufklärung des Unheils überlaſſen. Auch gegen Reginen wollte er ſchweigen, gewärtig, ob ſie Recht und Kraft zur freien Rede aus ſich ſelber ſchöpfe, und je nach Beſchaffenheit würde ſich dann das Weitere ergeben. Unterdeſſen ſollte die ſtumme Trennung, die zwiſchen ſie getreten, ihr nicht verborgen bleiben und ſie fühlen, daß die Entſcheidung nur aufgeſchoben ſei. Mit dieſem Vorſatze trat er wieder in ſein Haus, wo er Reginen nicht fand. Ihr war erſt ſeit Erwin's Ausgang das Bedenkliche und Unzuläſſige des Vorfalls mit dem Bilde ſchwer in's Gewiſſen gefallen; Blick und Wort Erwin's hatten ſie getroffen und die Dämmerung ihres Bewußtſeins plötzlich erleuchtet. Von Angſt erfüllt war ſie fortgeeilt, zunächſt zur Malerin, das Bild von ihr zu fordern. Sie ſuchte Ausflüchte, verſprach es zu ſchicken oder ſelbſt zu bringen, und gedrängt von der Flehenden, ſagte ſie endlich, das Bild müſſe bei einer der drei Damen ſein (der Parzen nämlich), jedenfalls ſei es gut aufgehoben und in ſicheren Händen. Regine lief zum ſogenannten Bienchen, zur Sammetgazelle, zum Rothkäppchen, keine wollte etwas von dem Bilde wiſſen, jede lächelte zuerſt verwundert und jede erhob dann einen dummen Lärm und wollte durchaus die Aermſte auf der Jagd nach ihrem Bildniß geräuſchvoll weiter begleiten. Unverrichteter Sache, aber mit doppelter Laſt beladen

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/keller_sinngedicht_1882
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/keller_sinngedicht_1882/147
Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Das Sinngedicht. Berlin, 1882, S. 137. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_sinngedicht_1882/147>, abgerufen am 29.04.2024.