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Kretzer, Max: Meister Timpe. Berlin, 1888.

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habe, so wollte er sich ihr doch nicht zur Freude Anderer
aussetzen. Und doch, sollte er jetzt davor zurückschrecken, sich
Urban erkenntlich zu zeigen, jetzt wo die Göttin des Glücks
ihr Füllhorn vor ihm ausgestreut hatte, um ihn doppelt zu
belohnen? ... Ein wahnwitziger Gedanke schreckte ihn aus
seinem Sinnen. Besaß er nicht einen Schlüssel zu seines
Vaters Haus, den er sich in der letzten Zeit seines dortigen
Aufenthaltes hatte anfertigen lassen? Wie -- wenn er
mitten in der Nacht . . . seine Eltern hatten einen festen
Schlaf . . . die Thür zur Werkstatt war niemals ver¬
schlossen . . . die Lehrlinge schliefen oben in der Boden¬
kammer . . .

Noch schlug sein Gewissen laut genug, um ihm bei
diesen Gedankensprüngen den Schweiß auf die Stirn zu
treiben. Aber so oft er sich mit Gewalt von ihnen wandte
-- sie kehrten zurück und peinigten ihn so lange, bis er sich
an den Schmerz gewöhnte, gleichgültig und abgestumpft gegen
ihn wurde . . .

Zwei Tage später, nahe um Mitternacht, schritten Kruse¬
meyer und Liebegott langsam die schmale Straße entlang, in
der Timpe wohnte. Es war Mitte November, der Himmel
sternenklar, aber der Wind, der die dünne Schneeschicht wie
einen durchsichtig-weißen Schleier in die Höhe trieb und gegen
die Häuser fegte, von schneidender Kälte. Soweit das Auge
reichte, zeigte sich kein menschliches Wesen, außer den beiden
unzertrennlichen Beschützern der Bürgerruhe. Liebegott hatte
die Hände in die weiten Aermel seines Mantels gesteckt, und
Krusemeyer den breiten Kragen des Rockes über die Ohren
geschlagen. So trotteten die Beiden gemächlich in größter
Seelenruhe ihres Weges dahin.

habe, ſo wollte er ſich ihr doch nicht zur Freude Anderer
ausſetzen. Und doch, ſollte er jetzt davor zurückſchrecken, ſich
Urban erkenntlich zu zeigen, jetzt wo die Göttin des Glücks
ihr Füllhorn vor ihm ausgeſtreut hatte, um ihn doppelt zu
belohnen? ... Ein wahnwitziger Gedanke ſchreckte ihn aus
ſeinem Sinnen. Beſaß er nicht einen Schlüſſel zu ſeines
Vaters Haus, den er ſich in der letzten Zeit ſeines dortigen
Aufenthaltes hatte anfertigen laſſen? Wie — wenn er
mitten in der Nacht . . . ſeine Eltern hatten einen feſten
Schlaf . . . die Thür zur Werkſtatt war niemals ver¬
ſchloſſen . . . die Lehrlinge ſchliefen oben in der Boden¬
kammer . . .

Noch ſchlug ſein Gewiſſen laut genug, um ihm bei
dieſen Gedankenſprüngen den Schweiß auf die Stirn zu
treiben. Aber ſo oft er ſich mit Gewalt von ihnen wandte
— ſie kehrten zurück und peinigten ihn ſo lange, bis er ſich
an den Schmerz gewöhnte, gleichgültig und abgeſtumpft gegen
ihn wurde . . .

Zwei Tage ſpäter, nahe um Mitternacht, ſchritten Kruſe¬
meyer und Liebegott langſam die ſchmale Straße entlang, in
der Timpe wohnte. Es war Mitte November, der Himmel
ſternenklar, aber der Wind, der die dünne Schneeſchicht wie
einen durchſichtig-weißen Schleier in die Höhe trieb und gegen
die Häuſer fegte, von ſchneidender Kälte. Soweit das Auge
reichte, zeigte ſich kein menſchliches Weſen, außer den beiden
unzertrennlichen Beſchützern der Bürgerruhe. Liebegott hatte
die Hände in die weiten Aermel ſeines Mantels geſteckt, und
Kruſemeyer den breiten Kragen des Rockes über die Ohren
geſchlagen. So trotteten die Beiden gemächlich in größter
Seelenruhe ihres Weges dahin.

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[194/0206] habe, ſo wollte er ſich ihr doch nicht zur Freude Anderer ausſetzen. Und doch, ſollte er jetzt davor zurückſchrecken, ſich Urban erkenntlich zu zeigen, jetzt wo die Göttin des Glücks ihr Füllhorn vor ihm ausgeſtreut hatte, um ihn doppelt zu belohnen? ... Ein wahnwitziger Gedanke ſchreckte ihn aus ſeinem Sinnen. Beſaß er nicht einen Schlüſſel zu ſeines Vaters Haus, den er ſich in der letzten Zeit ſeines dortigen Aufenthaltes hatte anfertigen laſſen? Wie — wenn er mitten in der Nacht . . . ſeine Eltern hatten einen feſten Schlaf . . . die Thür zur Werkſtatt war niemals ver¬ ſchloſſen . . . die Lehrlinge ſchliefen oben in der Boden¬ kammer . . . Noch ſchlug ſein Gewiſſen laut genug, um ihm bei dieſen Gedankenſprüngen den Schweiß auf die Stirn zu treiben. Aber ſo oft er ſich mit Gewalt von ihnen wandte — ſie kehrten zurück und peinigten ihn ſo lange, bis er ſich an den Schmerz gewöhnte, gleichgültig und abgeſtumpft gegen ihn wurde . . . Zwei Tage ſpäter, nahe um Mitternacht, ſchritten Kruſe¬ meyer und Liebegott langſam die ſchmale Straße entlang, in der Timpe wohnte. Es war Mitte November, der Himmel ſternenklar, aber der Wind, der die dünne Schneeſchicht wie einen durchſichtig-weißen Schleier in die Höhe trieb und gegen die Häuſer fegte, von ſchneidender Kälte. Soweit das Auge reichte, zeigte ſich kein menſchliches Weſen, außer den beiden unzertrennlichen Beſchützern der Bürgerruhe. Liebegott hatte die Hände in die weiten Aermel ſeines Mantels geſteckt, und Kruſemeyer den breiten Kragen des Rockes über die Ohren geſchlagen. So trotteten die Beiden gemächlich in größter Seelenruhe ihres Weges dahin.

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Zitationshilfe: Kretzer, Max: Meister Timpe. Berlin, 1888, S. 194. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kretzer_timpe_1888/206>, abgerufen am 28.04.2024.