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Kretzer, Max: Meister Timpe. Berlin, 1888.

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"Ich möchte wissen, wo heute der Wind herkommt. Das
ist, als wenn einem das Messer an die Kehle gesetzt wird",
sagte der Schutzmann, worauf der Wächter erwiderte:

"Aus 'nem Bäckerladen kommt er nicht; verlaß Dich
d'rauf."

Nach diesem höchst lehrreichen Gespräche entstand aber¬
mals eine längere Pause, denn der Schnee hatte sich in die
Bärte gesetzt und die Kälte aus ihnen kleine Eiszapfen ge¬
bildet, die das Sprechen nicht gerade zur angenehmen Be¬
schäftigung machten. Selbst die Philosophie war heute einge¬
froren. Sie thaute auch nicht auf, als die beiden Kumpane
an einem einsamen Thore Halt machten, Krusemeyer das
Fläschchen mit den Erhohlungstropfen aus der Tasche zog
und jeder ein herzhaftes Schlückchen zu sich nahm. Die ein¬
zige diesbezügliche Bemerkung Liebegott's war die, daß der
Winter immer schöner wäre, wenn er aus den Sommer¬
monaten bestände.

Sie kamen bei des Drechslers Haus vorüber und be¬
merkten hinter dem Laden des letzten Fensters noch Licht.

"Timpe noch auf, das wundert mich", sagte Liebegott.

"Der arme Meister! Er wird sich noch an seiner Dreh¬
bank quälen", fiel Krusemeyer ein. "Wer hätte früher ge¬
dacht, daß es mit dem Alten in seinen späten Tagen noch
bergab gehen würde! Aber der Urban macht ihn "alle", so
wenigstens sagte mir Beyer. Und bei alledem komme ich am
Schlechtesten weg; denn Thomas ist versessen darauf, bei dem
Alten auszuharren, und wenn er ein Hundegeld verdienen
sollte. Wie kann mein Mädel da aus dem Hause kommen?
Sie wird alt sein, wenn er sie heirathen kann, und da wird
sie ihm nicht mehr gefallen. . . . Wäre ich an seiner Stelle,

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„Ich möchte wiſſen, wo heute der Wind herkommt. Das
iſt, als wenn einem das Meſſer an die Kehle geſetzt wird“,
ſagte der Schutzmann, worauf der Wächter erwiderte:

„Aus 'nem Bäckerladen kommt er nicht; verlaß Dich
d'rauf.“

Nach dieſem höchſt lehrreichen Geſpräche entſtand aber¬
mals eine längere Pauſe, denn der Schnee hatte ſich in die
Bärte geſetzt und die Kälte aus ihnen kleine Eiszapfen ge¬
bildet, die das Sprechen nicht gerade zur angenehmen Be¬
ſchäftigung machten. Selbſt die Philoſophie war heute einge¬
froren. Sie thaute auch nicht auf, als die beiden Kumpane
an einem einſamen Thore Halt machten, Kruſemeyer das
Fläſchchen mit den Erhohlungstropfen aus der Taſche zog
und jeder ein herzhaftes Schlückchen zu ſich nahm. Die ein¬
zige diesbezügliche Bemerkung Liebegott's war die, daß der
Winter immer ſchöner wäre, wenn er aus den Sommer¬
monaten beſtände.

Sie kamen bei des Drechslers Haus vorüber und be¬
merkten hinter dem Laden des letzten Fenſters noch Licht.

„Timpe noch auf, das wundert mich“, ſagte Liebegott.

„Der arme Meiſter! Er wird ſich noch an ſeiner Dreh¬
bank quälen“, fiel Kruſemeyer ein. „Wer hätte früher ge¬
dacht, daß es mit dem Alten in ſeinen ſpäten Tagen noch
bergab gehen würde! Aber der Urban macht ihn „alle“, ſo
wenigſtens ſagte mir Beyer. Und bei alledem komme ich am
Schlechteſten weg; denn Thomas iſt verſeſſen darauf, bei dem
Alten auszuharren, und wenn er ein Hundegeld verdienen
ſollte. Wie kann mein Mädel da aus dem Hauſe kommen?
Sie wird alt ſein, wenn er ſie heirathen kann, und da wird
ſie ihm nicht mehr gefallen. . . . Wäre ich an ſeiner Stelle,

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[195/0207] „Ich möchte wiſſen, wo heute der Wind herkommt. Das iſt, als wenn einem das Meſſer an die Kehle geſetzt wird“, ſagte der Schutzmann, worauf der Wächter erwiderte: „Aus 'nem Bäckerladen kommt er nicht; verlaß Dich d'rauf.“ Nach dieſem höchſt lehrreichen Geſpräche entſtand aber¬ mals eine längere Pauſe, denn der Schnee hatte ſich in die Bärte geſetzt und die Kälte aus ihnen kleine Eiszapfen ge¬ bildet, die das Sprechen nicht gerade zur angenehmen Be¬ ſchäftigung machten. Selbſt die Philoſophie war heute einge¬ froren. Sie thaute auch nicht auf, als die beiden Kumpane an einem einſamen Thore Halt machten, Kruſemeyer das Fläſchchen mit den Erhohlungstropfen aus der Taſche zog und jeder ein herzhaftes Schlückchen zu ſich nahm. Die ein¬ zige diesbezügliche Bemerkung Liebegott's war die, daß der Winter immer ſchöner wäre, wenn er aus den Sommer¬ monaten beſtände. Sie kamen bei des Drechslers Haus vorüber und be¬ merkten hinter dem Laden des letzten Fenſters noch Licht. „Timpe noch auf, das wundert mich“, ſagte Liebegott. „Der arme Meiſter! Er wird ſich noch an ſeiner Dreh¬ bank quälen“, fiel Kruſemeyer ein. „Wer hätte früher ge¬ dacht, daß es mit dem Alten in ſeinen ſpäten Tagen noch bergab gehen würde! Aber der Urban macht ihn „alle“, ſo wenigſtens ſagte mir Beyer. Und bei alledem komme ich am Schlechteſten weg; denn Thomas iſt verſeſſen darauf, bei dem Alten auszuharren, und wenn er ein Hundegeld verdienen ſollte. Wie kann mein Mädel da aus dem Hauſe kommen? Sie wird alt ſein, wenn er ſie heirathen kann, und da wird ſie ihm nicht mehr gefallen. . . . Wäre ich an ſeiner Stelle, 13*

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Zitationshilfe: Kretzer, Max: Meister Timpe. Berlin, 1888, S. 195. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kretzer_timpe_1888/207>, abgerufen am 29.04.2024.