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Laband, Paul: Das Staatsrecht des Deutschen Reiches. Bd. 2. Tübingen, 1877.

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§. 57. Der Weg der Gesetzgebung nach der Reichsverfassung.
dieser Funktion betraut, so kann es nicht jedem Richter und Ver-
waltungsbeamten zustehen, in dem einzelnen, von ihnen zu ent-
scheidenden Falle den kaiserlichen Ausspruch einer Ueberprüfung
zu unterwerfen und je nach dem Ausfalle derselben ihm einen
widersprechenden entgegenzusetzen 1).

Selbst wenn man daher nach dem öffentlichen Rechte eines
Deutschen Bundesstaates ein richterliches Prüfungsrecht der Ver-
fassungsmäßigkeit der Landes gesetze annehmen wollte, so besteht
jedenfalls ein solches Prüfungsrecht den Reichsgesetzen gegen-
über nicht.

Aus dem hier ausgeführten Grundsatz ergibt sich noch eine
andere wichtige Consequenz. So wenig der Richter oder Verwal-
tungsbeamte, ebensowenig kann auch das einzelne Bundesglied
ein vom Kaiser ausgefertigtes Gesetz als verfassungswidrig zu-
standegekommen bezeichnen und für unverbindlich erklären 2). Wenn
eine Bundesregierung der Ansicht ist, daß durch ein Gesetz ein ihr
zustehendes Sonderrecht verletzt oder ihr eine unbillige Mehrbe-
lastung auferlegt werde, so muß sie ihren Widerspruch gegen den
Erlaß des Gesetzes vor Ausfertigung desselben erheben und
der Beschlußfassung im Bundesrath unterbreiten. Hat der Kaiser
die Ausfertigung ertheilt, so ist damit constatirt, daß ein solcher

1) Noch weiter geht Thudichum, Verf.-R. S. 95. Er verlangt nur,
daß eine Anordnung im Reichsgesetzblatt als "Gesetz" bezeichnet sei, aber weder,
daß die Zustimmung des Bundesrathes und des Reichstages darin erwähnt
sei, noch daß diese Zustimmung wirklich ertheilt sei. Das letztere stellt aber
Art. 5 der Reichs-Verf. als Erforderniß eines Gesetzes hin. Es muß daher
entweder -- wie die herrschende Ansicht will -- in jedem einzelnen
Falle vom Richter untersucht werden, ob diesem Erforderniß genügt ist, oder
es muß -- wie hier ausgeführt worden ist -- das Vorhandensein dieses Er-
fordernisses allgemein mit formeller Beweiskraft in der Ausfertigung con-
statirt sein.
2) Die entgegengesetzte Folgerung zieht consequenter Weise Hänel,
Studien I. S. 261 ff.; er erblickt gerade in dem richterlichen Prüfungsrecht
der Verfassungsmäßigkeit der Reichsgesetze einen indirekten Rechtsschutz
des Einzelstaates
gegen rechtswidrige Eingriffe des Reiches in seine
Rechts-Ordnung. Die Einzelstaaten würden um denselben nicht zu beneiden
sein; denn sie könnten in die eigenthümliche Lage kommen, daß der Bundes-
rath
von ihnen die Durchführung eines Reichsgesetzes verlangt und sie mit
Bundesexekution bedroht, während die Gerichtshöfe dasselbe Reichsgesetz
für nicht nach Maßgabe der Reichsverfassung erlassen und deshalb für unan-
wendbar und nichtig erklären.
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§. 57. Der Weg der Geſetzgebung nach der Reichsverfaſſung.
dieſer Funktion betraut, ſo kann es nicht jedem Richter und Ver-
waltungsbeamten zuſtehen, in dem einzelnen, von ihnen zu ent-
ſcheidenden Falle den kaiſerlichen Ausſpruch einer Ueberprüfung
zu unterwerfen und je nach dem Ausfalle derſelben ihm einen
widerſprechenden entgegenzuſetzen 1).

Selbſt wenn man daher nach dem öffentlichen Rechte eines
Deutſchen Bundesſtaates ein richterliches Prüfungsrecht der Ver-
faſſungsmäßigkeit der Landes geſetze annehmen wollte, ſo beſteht
jedenfalls ein ſolches Prüfungsrecht den Reichsgeſetzen gegen-
über nicht.

Aus dem hier ausgeführten Grundſatz ergibt ſich noch eine
andere wichtige Conſequenz. So wenig der Richter oder Verwal-
tungsbeamte, ebenſowenig kann auch das einzelne Bundesglied
ein vom Kaiſer ausgefertigtes Geſetz als verfaſſungswidrig zu-
ſtandegekommen bezeichnen und für unverbindlich erklären 2). Wenn
eine Bundesregierung der Anſicht iſt, daß durch ein Geſetz ein ihr
zuſtehendes Sonderrecht verletzt oder ihr eine unbillige Mehrbe-
laſtung auferlegt werde, ſo muß ſie ihren Widerſpruch gegen den
Erlaß des Geſetzes vor Ausfertigung deſſelben erheben und
der Beſchlußfaſſung im Bundesrath unterbreiten. Hat der Kaiſer
die Ausfertigung ertheilt, ſo iſt damit conſtatirt, daß ein ſolcher

1) Noch weiter geht Thudichum, Verf.-R. S. 95. Er verlangt nur,
daß eine Anordnung im Reichsgeſetzblatt als „Geſetz“ bezeichnet ſei, aber weder,
daß die Zuſtimmung des Bundesrathes und des Reichstages darin erwähnt
ſei, noch daß dieſe Zuſtimmung wirklich ertheilt ſei. Das letztere ſtellt aber
Art. 5 der Reichs-Verf. als Erforderniß eines Geſetzes hin. Es muß daher
entweder — wie die herrſchende Anſicht will — in jedem einzelnen
Falle vom Richter unterſucht werden, ob dieſem Erforderniß genügt iſt, oder
es muß — wie hier ausgeführt worden iſt — das Vorhandenſein dieſes Er-
forderniſſes allgemein mit formeller Beweiskraft in der Ausfertigung con-
ſtatirt ſein.
2) Die entgegengeſetzte Folgerung zieht conſequenter Weiſe Hänel,
Studien I. S. 261 ff.; er erblickt gerade in dem richterlichen Prüfungsrecht
der Verfaſſungsmäßigkeit der Reichsgeſetze einen indirekten Rechtsſchutz
des Einzelſtaates
gegen rechtswidrige Eingriffe des Reiches in ſeine
Rechts-Ordnung. Die Einzelſtaaten würden um denſelben nicht zu beneiden
ſein; denn ſie könnten in die eigenthümliche Lage kommen, daß der Bundes-
rath
von ihnen die Durchführung eines Reichsgeſetzes verlangt und ſie mit
Bundesexekution bedroht, während die Gerichtshöfe daſſelbe Reichsgeſetz
für nicht nach Maßgabe der Reichsverfaſſung erlaſſen und deshalb für unan-
wendbar und nichtig erklären.
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[51/0065] §. 57. Der Weg der Geſetzgebung nach der Reichsverfaſſung. dieſer Funktion betraut, ſo kann es nicht jedem Richter und Ver- waltungsbeamten zuſtehen, in dem einzelnen, von ihnen zu ent- ſcheidenden Falle den kaiſerlichen Ausſpruch einer Ueberprüfung zu unterwerfen und je nach dem Ausfalle derſelben ihm einen widerſprechenden entgegenzuſetzen 1). Selbſt wenn man daher nach dem öffentlichen Rechte eines Deutſchen Bundesſtaates ein richterliches Prüfungsrecht der Ver- faſſungsmäßigkeit der Landes geſetze annehmen wollte, ſo beſteht jedenfalls ein ſolches Prüfungsrecht den Reichsgeſetzen gegen- über nicht. Aus dem hier ausgeführten Grundſatz ergibt ſich noch eine andere wichtige Conſequenz. So wenig der Richter oder Verwal- tungsbeamte, ebenſowenig kann auch das einzelne Bundesglied ein vom Kaiſer ausgefertigtes Geſetz als verfaſſungswidrig zu- ſtandegekommen bezeichnen und für unverbindlich erklären 2). Wenn eine Bundesregierung der Anſicht iſt, daß durch ein Geſetz ein ihr zuſtehendes Sonderrecht verletzt oder ihr eine unbillige Mehrbe- laſtung auferlegt werde, ſo muß ſie ihren Widerſpruch gegen den Erlaß des Geſetzes vor Ausfertigung deſſelben erheben und der Beſchlußfaſſung im Bundesrath unterbreiten. Hat der Kaiſer die Ausfertigung ertheilt, ſo iſt damit conſtatirt, daß ein ſolcher 1) Noch weiter geht Thudichum, Verf.-R. S. 95. Er verlangt nur, daß eine Anordnung im Reichsgeſetzblatt als „Geſetz“ bezeichnet ſei, aber weder, daß die Zuſtimmung des Bundesrathes und des Reichstages darin erwähnt ſei, noch daß dieſe Zuſtimmung wirklich ertheilt ſei. Das letztere ſtellt aber Art. 5 der Reichs-Verf. als Erforderniß eines Geſetzes hin. Es muß daher entweder — wie die herrſchende Anſicht will — in jedem einzelnen Falle vom Richter unterſucht werden, ob dieſem Erforderniß genügt iſt, oder es muß — wie hier ausgeführt worden iſt — das Vorhandenſein dieſes Er- forderniſſes allgemein mit formeller Beweiskraft in der Ausfertigung con- ſtatirt ſein. 2) Die entgegengeſetzte Folgerung zieht conſequenter Weiſe Hänel, Studien I. S. 261 ff.; er erblickt gerade in dem richterlichen Prüfungsrecht der Verfaſſungsmäßigkeit der Reichsgeſetze einen indirekten Rechtsſchutz des Einzelſtaates gegen rechtswidrige Eingriffe des Reiches in ſeine Rechts-Ordnung. Die Einzelſtaaten würden um denſelben nicht zu beneiden ſein; denn ſie könnten in die eigenthümliche Lage kommen, daß der Bundes- rath von ihnen die Durchführung eines Reichsgeſetzes verlangt und ſie mit Bundesexekution bedroht, während die Gerichtshöfe daſſelbe Reichsgeſetz für nicht nach Maßgabe der Reichsverfaſſung erlaſſen und deshalb für unan- wendbar und nichtig erklären. 4*

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Zitationshilfe: Laband, Paul: Das Staatsrecht des Deutschen Reiches. Bd. 2. Tübingen, 1877, S. 51. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/laband_staatsrecht02_1878/65>, abgerufen am 28.04.2024.