Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 1. Leipzig u. a., 1775.

Bild:
<< vorherige Seite
Vermischtes.


Physiognomik ist ein dichterisches Gefühl, das die Ursach in der Wirkung erkennt.
Die meisten Menschen ergötzen sich am Gemählde, wie am Gedichte; an Schönheit oder Aehn-
lichkeit, oder Karrikatur.

Der Kritiker vergleicht die Verhältnisse unter sich selber und mit dem Original, aber
beyde stehen vor der Schöpfung des Dichters, wie vor der Schöpfung Gottes. Von der
Kraft, die es hervorbringt, haben sie keine Ahndung.



Aus den Urtheilen über diese Versuche werden wir Beyträge zur Physiognomik selbst
überflüßig gewinnen. Bayards Wahlspruch sans peur & sans reproche, kann nicht leben-
diger mit seinem herrlichen Gesicht übereinstimmen, als die Recensionen so mancher jungen
Magisters mit ihrem Kinn und ihren Halsbinden -- übereinstimmen werden.



Freylich wünscht' ich, wenn Wünschen was hülfe, daß noch kein Wort weder Gutes
noch Böses drüber gesprochen würde, bis ich dahin gekommen wäre, durch Jnduktionen Ein-
wendungen zu beantworten, die unbeantwortlich schienen.



So viel kann ich nur vorläufig versichern, daß ich noch keine Einwendung von jeman-
den gehört habe, die nicht durch den Unterschied der festern und weichern Theile -- der An-
lage
und der Uebung der Kräfte auf die simpelste Weise gehoben werden könnte.

Es ist alles am Menschen, wenn ich so sagen darf, Zettel und Eintrag! Wurzel
und Zweige! Anlage und Uebung! Bein und Fleisch!

Entwickle diesen Gedanken! Verfolg ihn so tief du kannst -- und er wird dir Schlüssel
zur ganzen Physiognomik seyn!



Von Sokrates, und was daher für und wider die Physiognomik folgt;

Von der Aehnlichkeit des Menschen mit den Thieren, und wie daher Licht und
wie viel Licht auf die Physiognomik falle;

Von
M m 3
Vermiſchtes.


Phyſiognomik iſt ein dichteriſches Gefuͤhl, das die Urſach in der Wirkung erkennt.
Die meiſten Menſchen ergoͤtzen ſich am Gemaͤhlde, wie am Gedichte; an Schoͤnheit oder Aehn-
lichkeit, oder Karrikatur.

Der Kritiker vergleicht die Verhaͤltniſſe unter ſich ſelber und mit dem Original, aber
beyde ſtehen vor der Schoͤpfung des Dichters, wie vor der Schoͤpfung Gottes. Von der
Kraft, die es hervorbringt, haben ſie keine Ahndung.



Aus den Urtheilen uͤber dieſe Verſuche werden wir Beytraͤge zur Phyſiognomik ſelbſt
uͤberfluͤßig gewinnen. Bayards Wahlſpruch ſans peur & ſans reproche, kann nicht leben-
diger mit ſeinem herrlichen Geſicht uͤbereinſtimmen, als die Recenſionen ſo mancher jungen
Magiſters mit ihrem Kinn und ihren Halsbinden — uͤbereinſtimmen werden.



Freylich wuͤnſcht' ich, wenn Wuͤnſchen was huͤlfe, daß noch kein Wort weder Gutes
noch Boͤſes druͤber geſprochen wuͤrde, bis ich dahin gekommen waͤre, durch Jnduktionen Ein-
wendungen zu beantworten, die unbeantwortlich ſchienen.



So viel kann ich nur vorlaͤufig verſichern, daß ich noch keine Einwendung von jeman-
den gehoͤrt habe, die nicht durch den Unterſchied der feſtern und weichern Theile — der An-
lage
und der Uebung der Kraͤfte auf die ſimpelſte Weiſe gehoben werden koͤnnte.

Es iſt alles am Menſchen, wenn ich ſo ſagen darf, Zettel und Eintrag! Wurzel
und Zweige! Anlage und Uebung! Bein und Fleiſch!

Entwickle dieſen Gedanken! Verfolg ihn ſo tief du kannſt — und er wird dir Schluͤſſel
zur ganzen Phyſiognomik ſeyn!



Von Sokrates, und was daher fuͤr und wider die Phyſiognomik folgt;

Von der Aehnlichkeit des Menſchen mit den Thieren, und wie daher Licht und
wie viel Licht auf die Phyſiognomik falle;

Von
M m 3
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <pb facs="#f0429" n="269"/>
          <fw place="top" type="header"> <hi rendition="#b"><hi rendition="#g">Vermi&#x017F;chtes</hi>.</hi> </fw><lb/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
          <p>Phy&#x017F;iognomik i&#x017F;t ein dichteri&#x017F;ches Gefu&#x0364;hl, das die Ur&#x017F;ach in der Wirkung erkennt.<lb/>
Die mei&#x017F;ten Men&#x017F;chen ergo&#x0364;tzen &#x017F;ich am Gema&#x0364;hlde, wie am Gedichte; an Scho&#x0364;nheit oder Aehn-<lb/>
lichkeit, oder Karrikatur.</p><lb/>
          <p>Der Kritiker vergleicht die Verha&#x0364;ltni&#x017F;&#x017F;e unter &#x017F;ich &#x017F;elber und mit dem Original, aber<lb/>
beyde &#x017F;tehen vor der Scho&#x0364;pfung des Dichters, wie vor der Scho&#x0364;pfung Gottes. Von der<lb/>
Kraft, die es hervorbringt, haben &#x017F;ie keine Ahndung.</p><lb/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
          <p>Aus den Urtheilen u&#x0364;ber die&#x017F;e Ver&#x017F;uche werden wir Beytra&#x0364;ge zur Phy&#x017F;iognomik &#x017F;elb&#x017F;t<lb/>
u&#x0364;berflu&#x0364;ßig gewinnen. <hi rendition="#fr">Bayards Wahl&#x017F;pruch</hi> <hi rendition="#aq"><hi rendition="#i">&#x017F;ans peur &amp; &#x017F;ans reproche,</hi></hi> kann nicht leben-<lb/>
diger mit &#x017F;einem herrlichen Ge&#x017F;icht u&#x0364;berein&#x017F;timmen, als die Recen&#x017F;ionen &#x017F;o mancher jungen<lb/>
Magi&#x017F;ters mit ihrem Kinn und ihren Halsbinden &#x2014; u&#x0364;berein&#x017F;timmen werden.</p><lb/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
          <p>Freylich wu&#x0364;n&#x017F;cht' ich, wenn Wu&#x0364;n&#x017F;chen was hu&#x0364;lfe, daß noch kein Wort weder Gutes<lb/>
noch Bo&#x0364;&#x017F;es dru&#x0364;ber ge&#x017F;prochen wu&#x0364;rde, bis ich dahin gekommen wa&#x0364;re, durch Jnduktionen Ein-<lb/>
wendungen zu beantworten, die unbeantwortlich &#x017F;chienen.</p><lb/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
          <p>So viel kann ich nur vorla&#x0364;ufig ver&#x017F;ichern, daß ich noch keine Einwendung von jeman-<lb/>
den geho&#x0364;rt habe, die nicht durch den Unter&#x017F;chied der <hi rendition="#fr">fe&#x017F;tern</hi> und <hi rendition="#fr">weichern</hi> Theile &#x2014; der <hi rendition="#fr">An-<lb/>
lage</hi> und der <hi rendition="#fr">Uebung</hi> der Kra&#x0364;fte auf die &#x017F;impel&#x017F;te Wei&#x017F;e gehoben werden ko&#x0364;nnte.</p><lb/>
          <p>Es i&#x017F;t alles am Men&#x017F;chen, wenn ich &#x017F;o &#x017F;agen darf, <hi rendition="#fr">Zettel</hi> und <hi rendition="#fr">Eintrag! Wurzel</hi><lb/>
und <hi rendition="#fr">Zweige! Anlage</hi> und <hi rendition="#fr">Uebung! Bein</hi> und <hi rendition="#fr">Flei&#x017F;ch!</hi></p><lb/>
          <p>Entwickle die&#x017F;en Gedanken! Verfolg ihn &#x017F;o tief du kann&#x017F;t &#x2014; und er wird dir Schlu&#x0364;&#x017F;&#x017F;el<lb/>
zur ganzen Phy&#x017F;iognomik &#x017F;eyn!</p><lb/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
          <p>Von <hi rendition="#fr">Sokrates,</hi> und was daher fu&#x0364;r und wider die Phy&#x017F;iognomik folgt;</p><lb/>
          <p>Von der <hi rendition="#fr">Aehnlichkeit des Men&#x017F;chen mit den Thieren,</hi> und wie daher Licht und<lb/>
wie viel Licht auf die Phy&#x017F;iognomik falle;</p><lb/>
          <fw place="bottom" type="sig">M m 3</fw>
          <fw place="bottom" type="catch">Von</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[269/0429] Vermiſchtes. Phyſiognomik iſt ein dichteriſches Gefuͤhl, das die Urſach in der Wirkung erkennt. Die meiſten Menſchen ergoͤtzen ſich am Gemaͤhlde, wie am Gedichte; an Schoͤnheit oder Aehn- lichkeit, oder Karrikatur. Der Kritiker vergleicht die Verhaͤltniſſe unter ſich ſelber und mit dem Original, aber beyde ſtehen vor der Schoͤpfung des Dichters, wie vor der Schoͤpfung Gottes. Von der Kraft, die es hervorbringt, haben ſie keine Ahndung. Aus den Urtheilen uͤber dieſe Verſuche werden wir Beytraͤge zur Phyſiognomik ſelbſt uͤberfluͤßig gewinnen. Bayards Wahlſpruch ſans peur & ſans reproche, kann nicht leben- diger mit ſeinem herrlichen Geſicht uͤbereinſtimmen, als die Recenſionen ſo mancher jungen Magiſters mit ihrem Kinn und ihren Halsbinden — uͤbereinſtimmen werden. Freylich wuͤnſcht' ich, wenn Wuͤnſchen was huͤlfe, daß noch kein Wort weder Gutes noch Boͤſes druͤber geſprochen wuͤrde, bis ich dahin gekommen waͤre, durch Jnduktionen Ein- wendungen zu beantworten, die unbeantwortlich ſchienen. So viel kann ich nur vorlaͤufig verſichern, daß ich noch keine Einwendung von jeman- den gehoͤrt habe, die nicht durch den Unterſchied der feſtern und weichern Theile — der An- lage und der Uebung der Kraͤfte auf die ſimpelſte Weiſe gehoben werden koͤnnte. Es iſt alles am Menſchen, wenn ich ſo ſagen darf, Zettel und Eintrag! Wurzel und Zweige! Anlage und Uebung! Bein und Fleiſch! Entwickle dieſen Gedanken! Verfolg ihn ſo tief du kannſt — und er wird dir Schluͤſſel zur ganzen Phyſiognomik ſeyn! Von Sokrates, und was daher fuͤr und wider die Phyſiognomik folgt; Von der Aehnlichkeit des Menſchen mit den Thieren, und wie daher Licht und wie viel Licht auf die Phyſiognomik falle; Von M m 3

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente01_1775
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente01_1775/429
Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 1. Leipzig u. a., 1775, S. 269. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente01_1775/429>, abgerufen am 29.04.2024.