Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Ludwig, Otto: Zwischen Himmel und Erde. Frankfurt (Main), 1856.

Bild:
<< vorherige Seite

einander vor Angst; da ihm einfiel, er stehe in der
Hausthür und sei verantwortlich für jedes Gerede, das
der Ausdruck seiner "Einbildungen" veranlassen konnte,
that er, als hab' er die Hände in einander gelegt, um
sie behaglich zu reiben.

Der Blechschmiedegeselle hatte gehört, Herr Netten¬
mair sei schon seit Jahren blind; der selbst hatte ihm
gesagt, sein Augenleiden sei unbedeutend; er merkte
bald, die Leute möchten doch recht haben. Nun nickte
ein rasch Vorübergehender, und auf sein "Wie geht's?"
lächelte der alte Herr wiederum: "Ich leide etwas an
den Augen, aber es hat nichts zu sagen." Ueber jeden
Andern an Herrn Nettenmair's Stelle würde der Ge¬
sell gelacht haben. Aber die mächtige Persönlichkeit
des alten Mannes setzte ihn so in Respekt, daß er den
Widerspruch seiner sinnlichen Wahrnehmung mit dessen
Worten auf sich beruhen ließ, und zugleich seinen Sin¬
nen glaubte: Herr Nettenmair sei blind, und Herrn
Nettenmair selbst: es habe nichts zu sagen. Das Er¬
scheinen des alten Herrn auf der Straße war ein
Wunder, und sicherlich würde es Aufsehen gemacht
haben und der alte Herr durch hundert Hän¬
deschüttler und Frager aufgehalten worden sein, hätte
nicht ein anderes Etwas die Aufmerksamkeit von ihm
abgelenkt. Da lief ein halblaut und schnell Ausge¬
sprochenes durch die Straßen. Zwei, Drei blieben
stehn, das Näherkommen eines Dritten, Vierten

einander vor Angſt; da ihm einfiel, er ſtehe in der
Hausthür und ſei verantwortlich für jedes Gerede, das
der Ausdruck ſeiner „Einbildungen“ veranlaſſen konnte,
that er, als hab' er die Hände in einander gelegt, um
ſie behaglich zu reiben.

Der Blechſchmiedegeſelle hatte gehört, Herr Netten¬
mair ſei ſchon ſeit Jahren blind; der ſelbſt hatte ihm
geſagt, ſein Augenleiden ſei unbedeutend; er merkte
bald, die Leute möchten doch recht haben. Nun nickte
ein raſch Vorübergehender, und auf ſein „Wie geht's?“
lächelte der alte Herr wiederum: „Ich leide etwas an
den Augen, aber es hat nichts zu ſagen.“ Ueber jeden
Andern an Herrn Nettenmair's Stelle würde der Ge¬
ſell gelacht haben. Aber die mächtige Perſönlichkeit
des alten Mannes ſetzte ihn ſo in Reſpekt, daß er den
Widerſpruch ſeiner ſinnlichen Wahrnehmung mit deſſen
Worten auf ſich beruhen ließ, und zugleich ſeinen Sin¬
nen glaubte: Herr Nettenmair ſei blind, und Herrn
Nettenmair ſelbſt: es habe nichts zu ſagen. Das Er¬
ſcheinen des alten Herrn auf der Straße war ein
Wunder, und ſicherlich würde es Aufſehen gemacht
haben und der alte Herr durch hundert Hän¬
deſchüttler und Frager aufgehalten worden ſein, hätte
nicht ein anderes Etwas die Aufmerkſamkeit von ihm
abgelenkt. Da lief ein halblaut und ſchnell Ausge¬
ſprochenes durch die Straßen. Zwei, Drei blieben
ſtehn, das Näherkommen eines Dritten, Vierten

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0215" n="206"/>
einander vor Ang&#x017F;t; da ihm einfiel, er &#x017F;tehe in der<lb/>
Hausthür und &#x017F;ei verantwortlich für jedes Gerede, das<lb/>
der Ausdruck &#x017F;einer &#x201E;Einbildungen&#x201C; veranla&#x017F;&#x017F;en konnte,<lb/>
that er, als hab' er die Hände in einander gelegt, um<lb/>
&#x017F;ie behaglich zu reiben.</p><lb/>
        <p>Der Blech&#x017F;chmiedege&#x017F;elle hatte gehört, Herr Netten¬<lb/>
mair &#x017F;ei &#x017F;chon &#x017F;eit Jahren blind; der &#x017F;elb&#x017F;t hatte ihm<lb/>
ge&#x017F;agt, &#x017F;ein Augenleiden &#x017F;ei unbedeutend; er merkte<lb/>
bald, die Leute möchten doch recht haben. Nun nickte<lb/>
ein ra&#x017F;ch Vorübergehender, und auf &#x017F;ein &#x201E;Wie geht's?&#x201C;<lb/>
lächelte der alte Herr wiederum: &#x201E;Ich leide etwas an<lb/>
den Augen, aber es hat nichts zu &#x017F;agen.&#x201C; Ueber jeden<lb/>
Andern an Herrn Nettenmair's Stelle würde der Ge¬<lb/>
&#x017F;ell gelacht haben. Aber die mächtige Per&#x017F;önlichkeit<lb/>
des alten Mannes &#x017F;etzte ihn &#x017F;o in Re&#x017F;pekt, daß er den<lb/>
Wider&#x017F;pruch &#x017F;einer &#x017F;innlichen Wahrnehmung mit de&#x017F;&#x017F;en<lb/>
Worten auf &#x017F;ich beruhen ließ, und zugleich &#x017F;einen Sin¬<lb/>
nen glaubte: Herr Nettenmair &#x017F;ei blind, und Herrn<lb/>
Nettenmair &#x017F;elb&#x017F;t: es habe nichts zu &#x017F;agen. Das Er¬<lb/>
&#x017F;cheinen des alten Herrn auf der Straße war ein<lb/>
Wunder, und &#x017F;icherlich würde es Auf&#x017F;ehen gemacht<lb/>
haben und der alte Herr durch hundert Hän¬<lb/>
de&#x017F;chüttler und Frager aufgehalten worden &#x017F;ein, hätte<lb/>
nicht ein anderes Etwas die Aufmerk&#x017F;amkeit von ihm<lb/>
abgelenkt. Da lief ein halblaut und &#x017F;chnell Ausge¬<lb/>
&#x017F;prochenes durch die Straßen. Zwei, Drei blieben<lb/>
&#x017F;tehn, das Näherkommen eines Dritten, Vierten<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[206/0215] einander vor Angſt; da ihm einfiel, er ſtehe in der Hausthür und ſei verantwortlich für jedes Gerede, das der Ausdruck ſeiner „Einbildungen“ veranlaſſen konnte, that er, als hab' er die Hände in einander gelegt, um ſie behaglich zu reiben. Der Blechſchmiedegeſelle hatte gehört, Herr Netten¬ mair ſei ſchon ſeit Jahren blind; der ſelbſt hatte ihm geſagt, ſein Augenleiden ſei unbedeutend; er merkte bald, die Leute möchten doch recht haben. Nun nickte ein raſch Vorübergehender, und auf ſein „Wie geht's?“ lächelte der alte Herr wiederum: „Ich leide etwas an den Augen, aber es hat nichts zu ſagen.“ Ueber jeden Andern an Herrn Nettenmair's Stelle würde der Ge¬ ſell gelacht haben. Aber die mächtige Perſönlichkeit des alten Mannes ſetzte ihn ſo in Reſpekt, daß er den Widerſpruch ſeiner ſinnlichen Wahrnehmung mit deſſen Worten auf ſich beruhen ließ, und zugleich ſeinen Sin¬ nen glaubte: Herr Nettenmair ſei blind, und Herrn Nettenmair ſelbſt: es habe nichts zu ſagen. Das Er¬ ſcheinen des alten Herrn auf der Straße war ein Wunder, und ſicherlich würde es Aufſehen gemacht haben und der alte Herr durch hundert Hän¬ deſchüttler und Frager aufgehalten worden ſein, hätte nicht ein anderes Etwas die Aufmerkſamkeit von ihm abgelenkt. Da lief ein halblaut und ſchnell Ausge¬ ſprochenes durch die Straßen. Zwei, Drei blieben ſtehn, das Näherkommen eines Dritten, Vierten

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/ludwig_himmel_1856
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/ludwig_himmel_1856/215
Zitationshilfe: Ludwig, Otto: Zwischen Himmel und Erde. Frankfurt (Main), 1856, S. 206. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ludwig_himmel_1856/215>, abgerufen am 29.04.2024.