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Ludwig, Otto: Zwischen Himmel und Erde. Frankfurt (Main), 1856.

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die Personen, als müßte es die Frau unfehlbar beruhi¬
gen, wenn sie den alten Amtmann Kern und seine
Haushälterin vor den Augen ihres Geistes sähe, wie
sie damals leibten und lebten. Er hätte sein Leben
hingegeben, um ihr zu helfen; er wußte in seiner
Rathlosigkeit nicht, wie? so suchte er sich selbst über
die Angst des Augenblicks durch immer eifrigeres Er¬
zählen hinauszuhelfen. Dabei belauschte er jede kleinste
Bewegung in den Zügen des bleichen schönen Gesichtes;
und je schöner und jugendlicher es ihm vorkam, desto
schwerer schien ihm, was sie litt, und desto eifriger
wurde sein Erzählen. Als eine siebenzehnjährige Braut
hatte er sie in das Haus mit den grünen Laden ein¬
ziehn sehn, acht Jahre hatte er in ihrer Nähe gelebt.
Die bis in ihr vier und zwanzigstes ein innerlich un¬
berührtes, heiter mit den Dingen spielendes Kind ge¬
wesen, was hatte sie in den letzten zwei Jahren erduldet!
Und wie schön war sie immer geblieben in ihrem
Dulden, wie schön hatte sie geduldet! Nun lag sie
zerbrochen als halb aufgeschlossene Blume vor seinen
alten Augen da, die so oft um sie geweint, mehr über
die Milde und unbewußte, unzerstörbare Hoheit, womit
sie ihr Unglück trug, als über ihr Unglück selbst. Es
gibt rührende Gestalten, die die Angst, die selbst der
Zorn nicht entstellt; die in all ihrem Thun, selbst in
ihrem Lächeln, selbst in ihrer lauten Freude uns be¬
wegen, deren Anblick uns rührt, ohne daß wir an einen

die Perſonen, als müßte es die Frau unfehlbar beruhi¬
gen, wenn ſie den alten Amtmann Kern und ſeine
Haushälterin vor den Augen ihres Geiſtes ſähe, wie
ſie damals leibten und lebten. Er hätte ſein Leben
hingegeben, um ihr zu helfen; er wußte in ſeiner
Rathloſigkeit nicht, wie? ſo ſuchte er ſich ſelbſt über
die Angſt des Augenblicks durch immer eifrigeres Er¬
zählen hinauszuhelfen. Dabei belauſchte er jede kleinſte
Bewegung in den Zügen des bleichen ſchönen Geſichtes;
und je ſchöner und jugendlicher es ihm vorkam, deſto
ſchwerer ſchien ihm, was ſie litt, und deſto eifriger
wurde ſein Erzählen. Als eine ſiebenzehnjährige Braut
hatte er ſie in das Haus mit den grünen Laden ein¬
ziehn ſehn, acht Jahre hatte er in ihrer Nähe gelebt.
Die bis in ihr vier und zwanzigſtes ein innerlich un¬
berührtes, heiter mit den Dingen ſpielendes Kind ge¬
weſen, was hatte ſie in den letzten zwei Jahren erduldet!
Und wie ſchön war ſie immer geblieben in ihrem
Dulden, wie ſchön hatte ſie geduldet! Nun lag ſie
zerbrochen als halb aufgeſchloſſene Blume vor ſeinen
alten Augen da, die ſo oft um ſie geweint, mehr über
die Milde und unbewußte, unzerſtörbare Hoheit, womit
ſie ihr Unglück trug, als über ihr Unglück ſelbſt. Es
gibt rührende Geſtalten, die die Angſt, die ſelbſt der
Zorn nicht entſtellt; die in all ihrem Thun, ſelbſt in
ihrem Lächeln, ſelbſt in ihrer lauten Freude uns be¬
wegen, deren Anblick uns rührt, ohne daß wir an einen

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[226/0235] die Perſonen, als müßte es die Frau unfehlbar beruhi¬ gen, wenn ſie den alten Amtmann Kern und ſeine Haushälterin vor den Augen ihres Geiſtes ſähe, wie ſie damals leibten und lebten. Er hätte ſein Leben hingegeben, um ihr zu helfen; er wußte in ſeiner Rathloſigkeit nicht, wie? ſo ſuchte er ſich ſelbſt über die Angſt des Augenblicks durch immer eifrigeres Er¬ zählen hinauszuhelfen. Dabei belauſchte er jede kleinſte Bewegung in den Zügen des bleichen ſchönen Geſichtes; und je ſchöner und jugendlicher es ihm vorkam, deſto ſchwerer ſchien ihm, was ſie litt, und deſto eifriger wurde ſein Erzählen. Als eine ſiebenzehnjährige Braut hatte er ſie in das Haus mit den grünen Laden ein¬ ziehn ſehn, acht Jahre hatte er in ihrer Nähe gelebt. Die bis in ihr vier und zwanzigſtes ein innerlich un¬ berührtes, heiter mit den Dingen ſpielendes Kind ge¬ weſen, was hatte ſie in den letzten zwei Jahren erduldet! Und wie ſchön war ſie immer geblieben in ihrem Dulden, wie ſchön hatte ſie geduldet! Nun lag ſie zerbrochen als halb aufgeſchloſſene Blume vor ſeinen alten Augen da, die ſo oft um ſie geweint, mehr über die Milde und unbewußte, unzerſtörbare Hoheit, womit ſie ihr Unglück trug, als über ihr Unglück ſelbſt. Es gibt rührende Geſtalten, die die Angſt, die ſelbſt der Zorn nicht entſtellt; die in all ihrem Thun, ſelbſt in ihrem Lächeln, ſelbſt in ihrer lauten Freude uns be¬ wegen, deren Anblick uns rührt, ohne daß wir an einen

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Zitationshilfe: Ludwig, Otto: Zwischen Himmel und Erde. Frankfurt (Main), 1856, S. 226. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ludwig_himmel_1856/235>, abgerufen am 29.04.2024.