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Mach, Ernst: Die Mechanik in ihrer Entwicklung. Leipzig, 1883.

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Die formelle Entwickelung der Mechanik.
wir eben betrachtet haben. Ein kurzer Hinweis darauf
wird genügen. Das Trägheitsmoment erspart uns die
Betrachtung der einzelnen Massentheile. Mit Hülfe der
Kraftfunction ersparen wir die Untersuchung der ein-
zelnen Kraftcomponenten. Die Einfachheit der Ueber-
legungen mit Hülfe der Kraftfunction beruht darauf,
dass schon eine Menge Ueberlegungen dem Auffinden
der Eigenschaften der Kraftfunction vorausgehen mussten.
Die Gauss'sche Dioptrik erspart uns die Betrachtung
der einzelnen brechenden Flächen eines dioptrischen
Systems, und ersetzt diese durch die Haupt- und Brenn-
punkte. Die Betrachtung der einzelnen Flächen musste
aber der Auffindung der Haupt- und Brennpunkte vor-
ausgehen. Die Gauss'sche Dioptrik erspart nur die
fortwährende Wiederholung dieser Betrachtung.

Man muss also sagen, dass es gar kein wissenschaft-
liches Resultat gibt, welches principiell nicht auch ohne
alle Methode gefunden werden könnte. Thatsächlich
ist aber in der kurzen Zeit eines Menschenlebens und
bei dem begrenzten Gedächtniss des Menschen ein
nennenswerthes Wissen nur durch die grösste Oekono-
mie der Gedanken erreichbar. Die Wissenschaft kann
daher selbst als eine Minimumaufgabe angesehen wer-
den, welche darin besteht, möglichst vollständig die
Thatsachen mit dem geringsten Gedankenaufwand
darzustellen.

7. Alle Wissenschaft hat nach unserer Auffassung
die Function Erfahrung zu ersetzen. Sie muss daher
zwar einerseits in dem Gebiete der Erfahrung blei-
ben, eilt aber doch andererseits der Erfahrung voraus,
stets einer Bestätigung aber auch Widerlegung gewärtig.
Wo weder eine Bestätigung noch eine Widerlegung
möglich ist, dort hat die Wissenschaft nichts zu schaffen.
Sie bewegt sich immer nur auf dem Gebiete der un-
vollständigen
Erfahrung. Muster solcher Zweige
der Wissenschaft sind die Theorien der Elasticität und
der Wärmeleitung, die beide den kleinsten Theilen
der Körper nur dieselben Eigenschaften beilegen, welche

Die formelle Entwickelung der Mechanik.
wir eben betrachtet haben. Ein kurzer Hinweis darauf
wird genügen. Das Trägheitsmoment erspart uns die
Betrachtung der einzelnen Massentheile. Mit Hülfe der
Kraftfunction ersparen wir die Untersuchung der ein-
zelnen Kraftcomponenten. Die Einfachheit der Ueber-
legungen mit Hülfe der Kraftfunction beruht darauf,
dass schon eine Menge Ueberlegungen dem Auffinden
der Eigenschaften der Kraftfunction vorausgehen mussten.
Die Gauss’sche Dioptrik erspart uns die Betrachtung
der einzelnen brechenden Flächen eines dioptrischen
Systems, und ersetzt diese durch die Haupt- und Brenn-
punkte. Die Betrachtung der einzelnen Flächen musste
aber der Auffindung der Haupt- und Brennpunkte vor-
ausgehen. Die Gauss’sche Dioptrik erspart nur die
fortwährende Wiederholung dieser Betrachtung.

Man muss also sagen, dass es gar kein wissenschaft-
liches Resultat gibt, welches principiell nicht auch ohne
alle Methode gefunden werden könnte. Thatsächlich
ist aber in der kurzen Zeit eines Menschenlebens und
bei dem begrenzten Gedächtniss des Menschen ein
nennenswerthes Wissen nur durch die grösste Oekono-
mie der Gedanken erreichbar. Die Wissenschaft kann
daher selbst als eine Minimumaufgabe angesehen wer-
den, welche darin besteht, möglichst vollständig die
Thatsachen mit dem geringsten Gedankenaufwand
darzustellen.

7. Alle Wissenschaft hat nach unserer Auffassung
die Function Erfahrung zu ersetzen. Sie muss daher
zwar einerseits in dem Gebiete der Erfahrung blei-
ben, eilt aber doch andererseits der Erfahrung voraus,
stets einer Bestätigung aber auch Widerlegung gewärtig.
Wo weder eine Bestätigung noch eine Widerlegung
möglich ist, dort hat die Wissenschaft nichts zu schaffen.
Sie bewegt sich immer nur auf dem Gebiete der un-
vollständigen
Erfahrung. Muster solcher Zweige
der Wissenschaft sind die Theorien der Elasticität und
der Wärmeleitung, die beide den kleinsten Theilen
der Körper nur dieselben Eigenschaften beilegen, welche

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[461/0473] Die formelle Entwickelung der Mechanik. wir eben betrachtet haben. Ein kurzer Hinweis darauf wird genügen. Das Trägheitsmoment erspart uns die Betrachtung der einzelnen Massentheile. Mit Hülfe der Kraftfunction ersparen wir die Untersuchung der ein- zelnen Kraftcomponenten. Die Einfachheit der Ueber- legungen mit Hülfe der Kraftfunction beruht darauf, dass schon eine Menge Ueberlegungen dem Auffinden der Eigenschaften der Kraftfunction vorausgehen mussten. Die Gauss’sche Dioptrik erspart uns die Betrachtung der einzelnen brechenden Flächen eines dioptrischen Systems, und ersetzt diese durch die Haupt- und Brenn- punkte. Die Betrachtung der einzelnen Flächen musste aber der Auffindung der Haupt- und Brennpunkte vor- ausgehen. Die Gauss’sche Dioptrik erspart nur die fortwährende Wiederholung dieser Betrachtung. Man muss also sagen, dass es gar kein wissenschaft- liches Resultat gibt, welches principiell nicht auch ohne alle Methode gefunden werden könnte. Thatsächlich ist aber in der kurzen Zeit eines Menschenlebens und bei dem begrenzten Gedächtniss des Menschen ein nennenswerthes Wissen nur durch die grösste Oekono- mie der Gedanken erreichbar. Die Wissenschaft kann daher selbst als eine Minimumaufgabe angesehen wer- den, welche darin besteht, möglichst vollständig die Thatsachen mit dem geringsten Gedankenaufwand darzustellen. 7. Alle Wissenschaft hat nach unserer Auffassung die Function Erfahrung zu ersetzen. Sie muss daher zwar einerseits in dem Gebiete der Erfahrung blei- ben, eilt aber doch andererseits der Erfahrung voraus, stets einer Bestätigung aber auch Widerlegung gewärtig. Wo weder eine Bestätigung noch eine Widerlegung möglich ist, dort hat die Wissenschaft nichts zu schaffen. Sie bewegt sich immer nur auf dem Gebiete der un- vollständigen Erfahrung. Muster solcher Zweige der Wissenschaft sind die Theorien der Elasticität und der Wärmeleitung, die beide den kleinsten Theilen der Körper nur dieselben Eigenschaften beilegen, welche

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Zitationshilfe: Mach, Ernst: Die Mechanik in ihrer Entwicklung. Leipzig, 1883, S. 461. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mach_mechanik_1883/473>, abgerufen am 27.04.2024.