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Menzel, Wolfgang: Die deutsche Literatur. Bd. 1. Stuttgart, 1828.

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weder einer Kirche noch einem Staate möglich ge¬
worden, eine jesuitische oder spartanische Disciplin
durchzusetzen. Dies ist ein Palladium deutscher Frei¬
heit und die Bürgschaft für den unaufhaltsamen Fort¬
schritt der echten Bildung.

In der neuesten Geschichte und Literatur hat die
Erziehung eine größre Rolle, als jemals gespielt.
Bis in die letzte Hälfte des vorigen Jahrhunderts
gieng sie einen ziemlich schläfrigen Gang, und die
Orbile wurden zum Sprichwort. Sie war nicht viel
mehr, als ein nothwendiges Übel. Die Lethargie
sprang aber bald in einen wahren St. Veitstanz um.
Die revolutionären Ideen des Jahrhunderts wirkten
auch auf die Erziehung ein und bald bemühte man
sich, wirkliche Übelstände abzuschaffen, bald hoffte
man die Jugend für die Ideale bilden zu können,
für welche die ältere Generation zu verderbt schien.

Nirgends ist so viel geschwärmt worden, als in
der Pädagogik, weil man der Jugend und der Zu¬
kunft alles zutrauen durfte. Der begeisterte Men¬
schenfreund, der die Welt von Grund aus verbessern
möchte, sieht sich an die Jugend gewiesen, die für
seine Ideale bildsam ist, aber auch der bloße Char¬
latan sucht sich das weiche Wachs der Jugend, um
ihr seinen Stempel aufzudrücken. Jeder meint leich¬
tere Arbeit mit der Jugend zu haben, und seine Ab¬
sichten in diesem empfänglichen Boden am besten ge¬
deihen zu sehn. Alles wandte sich an die Jugend,
wie an eine neuerstandne Macht und schmeichelte der¬

weder einer Kirche noch einem Staate moͤglich ge¬
worden, eine jeſuitiſche oder ſpartaniſche Disciplin
durchzuſetzen. Dies iſt ein Palladium deutſcher Frei¬
heit und die Buͤrgſchaft fuͤr den unaufhaltſamen Fort¬
ſchritt der echten Bildung.

In der neueſten Geſchichte und Literatur hat die
Erziehung eine groͤßre Rolle, als jemals geſpielt.
Bis in die letzte Haͤlfte des vorigen Jahrhunderts
gieng ſie einen ziemlich ſchlaͤfrigen Gang, und die
Orbile wurden zum Sprichwort. Sie war nicht viel
mehr, als ein nothwendiges Übel. Die Lethargie
ſprang aber bald in einen wahren St. Veitstanz um.
Die revolutionaͤren Ideen des Jahrhunderts wirkten
auch auf die Erziehung ein und bald bemuͤhte man
ſich, wirkliche Übelſtaͤnde abzuſchaffen, bald hoffte
man die Jugend fuͤr die Ideale bilden zu koͤnnen,
fuͤr welche die aͤltere Generation zu verderbt ſchien.

Nirgends iſt ſo viel geſchwaͤrmt worden, als in
der Paͤdagogik, weil man der Jugend und der Zu¬
kunft alles zutrauen durfte. Der begeiſterte Men¬
ſchenfreund, der die Welt von Grund aus verbeſſern
moͤchte, ſieht ſich an die Jugend gewieſen, die fuͤr
ſeine Ideale bildſam iſt, aber auch der bloße Char¬
latan ſucht ſich das weiche Wachs der Jugend, um
ihr ſeinen Stempel aufzudruͤcken. Jeder meint leich¬
tere Arbeit mit der Jugend zu haben, und ſeine Ab¬
ſichten in dieſem empfaͤnglichen Boden am beſten ge¬
deihen zu ſehn. Alles wandte ſich an die Jugend,
wie an eine neuerſtandne Macht und ſchmeichelte der¬

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[261/0271] weder einer Kirche noch einem Staate moͤglich ge¬ worden, eine jeſuitiſche oder ſpartaniſche Disciplin durchzuſetzen. Dies iſt ein Palladium deutſcher Frei¬ heit und die Buͤrgſchaft fuͤr den unaufhaltſamen Fort¬ ſchritt der echten Bildung. In der neueſten Geſchichte und Literatur hat die Erziehung eine groͤßre Rolle, als jemals geſpielt. Bis in die letzte Haͤlfte des vorigen Jahrhunderts gieng ſie einen ziemlich ſchlaͤfrigen Gang, und die Orbile wurden zum Sprichwort. Sie war nicht viel mehr, als ein nothwendiges Übel. Die Lethargie ſprang aber bald in einen wahren St. Veitstanz um. Die revolutionaͤren Ideen des Jahrhunderts wirkten auch auf die Erziehung ein und bald bemuͤhte man ſich, wirkliche Übelſtaͤnde abzuſchaffen, bald hoffte man die Jugend fuͤr die Ideale bilden zu koͤnnen, fuͤr welche die aͤltere Generation zu verderbt ſchien. Nirgends iſt ſo viel geſchwaͤrmt worden, als in der Paͤdagogik, weil man der Jugend und der Zu¬ kunft alles zutrauen durfte. Der begeiſterte Men¬ ſchenfreund, der die Welt von Grund aus verbeſſern moͤchte, ſieht ſich an die Jugend gewieſen, die fuͤr ſeine Ideale bildſam iſt, aber auch der bloße Char¬ latan ſucht ſich das weiche Wachs der Jugend, um ihr ſeinen Stempel aufzudruͤcken. Jeder meint leich¬ tere Arbeit mit der Jugend zu haben, und ſeine Ab¬ ſichten in dieſem empfaͤnglichen Boden am beſten ge¬ deihen zu ſehn. Alles wandte ſich an die Jugend, wie an eine neuerſtandne Macht und ſchmeichelte der¬

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Zitationshilfe: Menzel, Wolfgang: Die deutsche Literatur. Bd. 1. Stuttgart, 1828, S. 261. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/menzel_literatur01_1828/271>, abgerufen am 25.04.2024.