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Menzel, Wolfgang: Die deutsche Literatur. Bd. 1. Stuttgart, 1828.

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selben und brachte ihr den höchsten Begriff von sich
selbst bei. Dadurch wurde sie häufig aus ihrer na¬
türlichen Stellung verrückt und die Unnatur hat sich
eben so häufig gerächt.

Es muß auffallen, daß in der neuern Zeit die
Kinder eine so bedeutende Rolle spielen. Einerseits
sehn wir sie den Alten über die Köpfe wachsen, and¬
rerseits setzt man alles Heil, alle Hoffnung nur in
sie, und schreibt ihnen wohl gar eine heilige Kraft
zu, wie unsre Vorfahren ehemals den Weibern.

Was das Erste betrifft, so haben die Kinder
wohl nie so viel Lärmen gemacht, als bei uns. Man
sieht sie auf dem Katheder dociren, bei eignen Kin¬
derbällen und Tänzen trotz den Alten kokettiren, in
einer Unzahl von Familien das große Wort und die
Zügel der Herrschaft führen, in den Schulen die Leh¬
rer Hofmeistern, wohl gar in eine Räuberbande con¬
stituirt und endlich als Hochverräther und Demagogen
arretirt.

Auf der andern Seite erwartet man von eben
diesen Kindern ein goldnes Zeitalter, und predigt
ihnen unaufhörlich vor, was man alles von ihnen
hoffe, was möglicherweise in ihnen stecke, wie sie so
viel mehr seyn sollen und werden, als wir Alten,
und viele Pädagogen bekennen öffentlich, daß wir
Alten eigentlich bei den Kindern in die Schule gehn
sollen.

Diese neue Wichtigkeit, welche man der Jugend
beigelegt hat, und die widersprechenden Meinungen

ſelben und brachte ihr den hoͤchſten Begriff von ſich
ſelbſt bei. Dadurch wurde ſie haͤufig aus ihrer na¬
tuͤrlichen Stellung verruͤckt und die Unnatur hat ſich
eben ſo haͤufig geraͤcht.

Es muß auffallen, daß in der neuern Zeit die
Kinder eine ſo bedeutende Rolle ſpielen. Einerſeits
ſehn wir ſie den Alten uͤber die Koͤpfe wachſen, and¬
rerſeits ſetzt man alles Heil, alle Hoffnung nur in
ſie, und ſchreibt ihnen wohl gar eine heilige Kraft
zu, wie unſre Vorfahren ehemals den Weibern.

Was das Erſte betrifft, ſo haben die Kinder
wohl nie ſo viel Laͤrmen gemacht, als bei uns. Man
ſieht ſie auf dem Katheder dociren, bei eignen Kin¬
derbaͤllen und Taͤnzen trotz den Alten kokettiren, in
einer Unzahl von Familien das große Wort und die
Zuͤgel der Herrſchaft fuͤhren, in den Schulen die Leh¬
rer Hofmeiſtern, wohl gar in eine Raͤuberbande con¬
ſtituirt und endlich als Hochverraͤther und Demagogen
arretirt.

Auf der andern Seite erwartet man von eben
dieſen Kindern ein goldnes Zeitalter, und predigt
ihnen unaufhoͤrlich vor, was man alles von ihnen
hoffe, was moͤglicherweiſe in ihnen ſtecke, wie ſie ſo
viel mehr ſeyn ſollen und werden, als wir Alten,
und viele Paͤdagogen bekennen oͤffentlich, daß wir
Alten eigentlich bei den Kindern in die Schule gehn
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Dieſe neue Wichtigkeit, welche man der Jugend
beigelegt hat, und die widerſprechenden Meinungen

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[262/0272] ſelben und brachte ihr den hoͤchſten Begriff von ſich ſelbſt bei. Dadurch wurde ſie haͤufig aus ihrer na¬ tuͤrlichen Stellung verruͤckt und die Unnatur hat ſich eben ſo haͤufig geraͤcht. Es muß auffallen, daß in der neuern Zeit die Kinder eine ſo bedeutende Rolle ſpielen. Einerſeits ſehn wir ſie den Alten uͤber die Koͤpfe wachſen, and¬ rerſeits ſetzt man alles Heil, alle Hoffnung nur in ſie, und ſchreibt ihnen wohl gar eine heilige Kraft zu, wie unſre Vorfahren ehemals den Weibern. Was das Erſte betrifft, ſo haben die Kinder wohl nie ſo viel Laͤrmen gemacht, als bei uns. Man ſieht ſie auf dem Katheder dociren, bei eignen Kin¬ derbaͤllen und Taͤnzen trotz den Alten kokettiren, in einer Unzahl von Familien das große Wort und die Zuͤgel der Herrſchaft fuͤhren, in den Schulen die Leh¬ rer Hofmeiſtern, wohl gar in eine Raͤuberbande con¬ ſtituirt und endlich als Hochverraͤther und Demagogen arretirt. Auf der andern Seite erwartet man von eben dieſen Kindern ein goldnes Zeitalter, und predigt ihnen unaufhoͤrlich vor, was man alles von ihnen hoffe, was moͤglicherweiſe in ihnen ſtecke, wie ſie ſo viel mehr ſeyn ſollen und werden, als wir Alten, und viele Paͤdagogen bekennen oͤffentlich, daß wir Alten eigentlich bei den Kindern in die Schule gehn ſollen. Dieſe neue Wichtigkeit, welche man der Jugend beigelegt hat, und die widerſprechenden Meinungen

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Zitationshilfe: Menzel, Wolfgang: Die deutsche Literatur. Bd. 1. Stuttgart, 1828, S. 262. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/menzel_literatur01_1828/272>, abgerufen am 30.04.2024.