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Menzel, Wolfgang: Die deutsche Literatur. Bd. 1. Stuttgart, 1828.

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über Erziehung, welche den philosophischen und poli¬
tischen Ansichten nothwendig folgen mußten, haben
der pädagogischen Literatur einen Umfang gegeben,
wie sie ihn noch nie gehabt hat. Jährlich erscheinen
viele hundert Werke für die Erzieher oder für die
Jugend.

Abgesehn von allen einzelnen Nuancen pädagogi¬
scher Ansichten gibt es wesentlich nur zwei verschiedne
Hauptprincipe der Erziehung, das eine, wonach die
Kinder für die gegenwärtig bestehenden Verhältnisse,
das andre, wonach sie zu höhern Idealen der Mensch¬
heit herangebildet werden sollen. Das erste Princip
herrscht allgemein in den öffentlichen Schulen, dem
Gange der alten Gewohnheit gemäß; es ist aber auch
philosophisch als das einzig heilsame und natürliche
angepriesen worden von Göthe, Steffens und vielen
andern, und das berühmte Fellenbergische Institut in
der Schweiz ist ganz nach diesem System organisirt
und sucht noch strenger, als irgend eine öffentliche
Schule, jedes Kind nur zu dem Beruf zu bilden,
der seinem angebornen Stand und Rang, seinem
Reichthum oder seiner Armuth angemessen ist. Das
entgegengesetzte Princip ist vorzüglich von Fichte ver¬
theidigt worden und später hat Jahn versucht, es
einigermaßen zu realisiren. Nach diesem Princip soll
für die Jugend Stand und Rang verschwinden, und
jedes Kind eine gleiche Erziehung genießen, der Un¬
terschied ihres Berufs aber allein auf dem ihres Ta¬
lents begründet werden. Die Jugend soll ferner nicht

uͤber Erziehung, welche den philoſophiſchen und poli¬
tiſchen Anſichten nothwendig folgen mußten, haben
der paͤdagogiſchen Literatur einen Umfang gegeben,
wie ſie ihn noch nie gehabt hat. Jaͤhrlich erſcheinen
viele hundert Werke fuͤr die Erzieher oder fuͤr die
Jugend.

Abgeſehn von allen einzelnen Nuancen paͤdagogi¬
ſcher Anſichten gibt es weſentlich nur zwei verſchiedne
Hauptprincipe der Erziehung, das eine, wonach die
Kinder fuͤr die gegenwaͤrtig beſtehenden Verhaͤltniſſe,
das andre, wonach ſie zu hoͤhern Idealen der Menſch¬
heit herangebildet werden ſollen. Das erſte Princip
herrſcht allgemein in den oͤffentlichen Schulen, dem
Gange der alten Gewohnheit gemaͤß; es iſt aber auch
philoſophiſch als das einzig heilſame und natuͤrliche
angeprieſen worden von Goͤthe, Steffens und vielen
andern, und das beruͤhmte Fellenbergiſche Inſtitut in
der Schweiz iſt ganz nach dieſem Syſtem organiſirt
und ſucht noch ſtrenger, als irgend eine oͤffentliche
Schule, jedes Kind nur zu dem Beruf zu bilden,
der ſeinem angebornen Stand und Rang, ſeinem
Reichthum oder ſeiner Armuth angemeſſen iſt. Das
entgegengeſetzte Princip iſt vorzuͤglich von Fichte ver¬
theidigt worden und ſpaͤter hat Jahn verſucht, es
einigermaßen zu realiſiren. Nach dieſem Princip ſoll
fuͤr die Jugend Stand und Rang verſchwinden, und
jedes Kind eine gleiche Erziehung genießen, der Un¬
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[263/0273] uͤber Erziehung, welche den philoſophiſchen und poli¬ tiſchen Anſichten nothwendig folgen mußten, haben der paͤdagogiſchen Literatur einen Umfang gegeben, wie ſie ihn noch nie gehabt hat. Jaͤhrlich erſcheinen viele hundert Werke fuͤr die Erzieher oder fuͤr die Jugend. Abgeſehn von allen einzelnen Nuancen paͤdagogi¬ ſcher Anſichten gibt es weſentlich nur zwei verſchiedne Hauptprincipe der Erziehung, das eine, wonach die Kinder fuͤr die gegenwaͤrtig beſtehenden Verhaͤltniſſe, das andre, wonach ſie zu hoͤhern Idealen der Menſch¬ heit herangebildet werden ſollen. Das erſte Princip herrſcht allgemein in den oͤffentlichen Schulen, dem Gange der alten Gewohnheit gemaͤß; es iſt aber auch philoſophiſch als das einzig heilſame und natuͤrliche angeprieſen worden von Goͤthe, Steffens und vielen andern, und das beruͤhmte Fellenbergiſche Inſtitut in der Schweiz iſt ganz nach dieſem Syſtem organiſirt und ſucht noch ſtrenger, als irgend eine oͤffentliche Schule, jedes Kind nur zu dem Beruf zu bilden, der ſeinem angebornen Stand und Rang, ſeinem Reichthum oder ſeiner Armuth angemeſſen iſt. Das entgegengeſetzte Princip iſt vorzuͤglich von Fichte ver¬ theidigt worden und ſpaͤter hat Jahn verſucht, es einigermaßen zu realiſiren. Nach dieſem Princip ſoll fuͤr die Jugend Stand und Rang verſchwinden, und jedes Kind eine gleiche Erziehung genießen, der Un¬ terſchied ihres Berufs aber allein auf dem ihres Ta¬ lents begruͤndet werden. Die Jugend ſoll ferner nicht

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Zitationshilfe: Menzel, Wolfgang: Die deutsche Literatur. Bd. 1. Stuttgart, 1828, S. 263. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/menzel_literatur01_1828/273>, abgerufen am 30.04.2024.