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Menzel, Wolfgang: Die deutsche Literatur. Bd. 1. Stuttgart, 1828.

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für das gemeine Leben, sondern für den Zweck der
Weltverbesserung erzogen werden. Sie soll zu etwas
Besserem heranreifen, als die frühere Generation.
Man soll ihre zarten Keime nicht unter der Last be¬
stehender drückender Verhältnisse ersticken, sondern
ihnen jede mögliche Freiheit der Entwicklung gönnen.

Die erste Ansicht hängt mit dem Katholicismus
und dem politischen Stabilitätsprincip zusammen, die
letztere mit dem Protestantismus und dem republika¬
nischen Princip. Indeß bleibt die letztere immer nur
im Reich der Träume. Die Jugend ist immer nur
nach dem Muster der Alten erzogen worden, in Rom
und Sparta nicht minder als in China. Die neuern
deutschen Philosophen und Pädagogen, welche durch
die Jugendbildung eine Regeneration der Menschheit
haben bewerkstelligen wollen, sind nicht glücklicher ge¬
wesen, als Plato und Rousseau. Ihre Partei ist nur
in der Literatur von Bedeutung, im Leben so gut
als nicht vorhanden.

Wichtiger ist der Streit über die einzelnen Ge¬
genstände und Methoden des Unterrichts. Hier herr¬
schen eine unsägliche Menge veralteter Mißbräuche.
Der religiöse und philologische Unterricht hatte ge¬
raume Zeit die Alleinherrschaft, und die gelehrte und
adelige Erziehung war beinah allein cultivirt, wäh¬
rend der eigentliche Volksunterricht völlig vernach¬
lässigt wurde. Beiden Übelständen suchte man all¬
mählig durch Erweiterung des realistischen Unterrichts
und durch Verbesserung der Dorfschulen zu begegnen.

fuͤr das gemeine Leben, ſondern fuͤr den Zweck der
Weltverbeſſerung erzogen werden. Sie ſoll zu etwas
Beſſerem heranreifen, als die fruͤhere Generation.
Man ſoll ihre zarten Keime nicht unter der Laſt be¬
ſtehender druͤckender Verhaͤltniſſe erſticken, ſondern
ihnen jede moͤgliche Freiheit der Entwicklung goͤnnen.

Die erſte Anſicht haͤngt mit dem Katholicismus
und dem politiſchen Stabilitaͤtsprincip zuſammen, die
letztere mit dem Proteſtantismus und dem republika¬
niſchen Princip. Indeß bleibt die letztere immer nur
im Reich der Traͤume. Die Jugend iſt immer nur
nach dem Muſter der Alten erzogen worden, in Rom
und Sparta nicht minder als in China. Die neuern
deutſchen Philoſophen und Paͤdagogen, welche durch
die Jugendbildung eine Regeneration der Menſchheit
haben bewerkſtelligen wollen, ſind nicht gluͤcklicher ge¬
weſen, als Plato und Rouſſeau. Ihre Partei iſt nur
in der Literatur von Bedeutung, im Leben ſo gut
als nicht vorhanden.

Wichtiger iſt der Streit uͤber die einzelnen Ge¬
genſtaͤnde und Methoden des Unterrichts. Hier herr¬
ſchen eine unſaͤgliche Menge veralteter Mißbraͤuche.
Der religioͤſe und philologiſche Unterricht hatte ge¬
raume Zeit die Alleinherrſchaft, und die gelehrte und
adelige Erziehung war beinah allein cultivirt, waͤh¬
rend der eigentliche Volksunterricht voͤllig vernach¬
laͤſſigt wurde. Beiden Übelſtaͤnden ſuchte man all¬
maͤhlig durch Erweiterung des realiſtiſchen Unterrichts
und durch Verbeſſerung der Dorfſchulen zu begegnen.

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[264/0274] fuͤr das gemeine Leben, ſondern fuͤr den Zweck der Weltverbeſſerung erzogen werden. Sie ſoll zu etwas Beſſerem heranreifen, als die fruͤhere Generation. Man ſoll ihre zarten Keime nicht unter der Laſt be¬ ſtehender druͤckender Verhaͤltniſſe erſticken, ſondern ihnen jede moͤgliche Freiheit der Entwicklung goͤnnen. Die erſte Anſicht haͤngt mit dem Katholicismus und dem politiſchen Stabilitaͤtsprincip zuſammen, die letztere mit dem Proteſtantismus und dem republika¬ niſchen Princip. Indeß bleibt die letztere immer nur im Reich der Traͤume. Die Jugend iſt immer nur nach dem Muſter der Alten erzogen worden, in Rom und Sparta nicht minder als in China. Die neuern deutſchen Philoſophen und Paͤdagogen, welche durch die Jugendbildung eine Regeneration der Menſchheit haben bewerkſtelligen wollen, ſind nicht gluͤcklicher ge¬ weſen, als Plato und Rouſſeau. Ihre Partei iſt nur in der Literatur von Bedeutung, im Leben ſo gut als nicht vorhanden. Wichtiger iſt der Streit uͤber die einzelnen Ge¬ genſtaͤnde und Methoden des Unterrichts. Hier herr¬ ſchen eine unſaͤgliche Menge veralteter Mißbraͤuche. Der religioͤſe und philologiſche Unterricht hatte ge¬ raume Zeit die Alleinherrſchaft, und die gelehrte und adelige Erziehung war beinah allein cultivirt, waͤh¬ rend der eigentliche Volksunterricht voͤllig vernach¬ laͤſſigt wurde. Beiden Übelſtaͤnden ſuchte man all¬ maͤhlig durch Erweiterung des realiſtiſchen Unterrichts und durch Verbeſſerung der Dorfſchulen zu begegnen.

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Zitationshilfe: Menzel, Wolfgang: Die deutsche Literatur. Bd. 1. Stuttgart, 1828, S. 264. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/menzel_literatur01_1828/274>, abgerufen am 30.04.2024.