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Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 1. Leipzig, 1776.

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zerrißnen Gewitterwolken hervor, und goß sein
blasses, melancholisches Licht auf die Liebenden her-
unter. Sie betrachteten ihn lang am Fenster;
küßten sich zuweilen; sprachen abgebrochne Worte,
und fühlten, was die Sprache nicht beschreiben
kann. -- Um drey Uhr gieng Therese weg, um
den Kaffee zu machen. Kronhelm sprach von
gleichgültigern Dingen mit Siegwart. Nach
einer halben Stunde kam sie wieder, und brach-
te den Kaffee Der alte Siegwart kam auch.
Er sagte, man könne mit dem Abfahren bis halb
5 Uhr warten, ob der Regen nicht äufhöre?
Aber länger nicht! -- Als der Kaffee getrunken
war, stellte sich Kronhelm mit Theresen wieder
aus Fenster. Der Regen hielt noch an, und die
Hofnung verschwand immer mehr, daß Therese
sie begleiten könne. Sie hörten alle Viertelstun-
den auf dem nahen Kirchthurm schlagen, und je-
der Glockenschlag war ihnen ein Donnerton;
Mit jedem sank ihr Muth mehr. -- Der alte
Siegwart suchte sie durch sein Gespräch etwas
außuheitern; sie lächelten zuweilen, aber wie der
Mond, der durch Regenwolken schien. Der Tag
brach an, und röthete in etwas die Gewitterwol-
ken; endlich ward der Himmel blutroth. Es
schlug vier Uhr. Kronhelm bebte, als ers hörte.
Er stand unbeweglich vor Theresen. Endlich
gieng er in die Kammer, um sich vollends anzu-
ziehen, und seine Sachen in Ordnung zu brin-
gen. Er kam wieder auf das Zimmer. Es
schlug ein Viertel. Herr Gott! wie die Zeit
eilt! sagte Therese. Kronhelm holte seinen
Stock. Er stand, wie ein Verurtheilter da, der
nun alle Augenblicke zum Tod geführt werden
soll. Endlich schlugs halb. -- Nun, wir müssen



zerrißnen Gewitterwolken hervor, und goß ſein
blaſſes, melancholiſches Licht auf die Liebenden her-
unter. Sie betrachteten ihn lang am Fenſter;
kuͤßten ſich zuweilen; ſprachen abgebrochne Worte,
und fuͤhlten, was die Sprache nicht beſchreiben
kann. — Um drey Uhr gieng Thereſe weg, um
den Kaffee zu machen. Kronhelm ſprach von
gleichguͤltigern Dingen mit Siegwart. Nach
einer halben Stunde kam ſie wieder, und brach-
te den Kaffee Der alte Siegwart kam auch.
Er ſagte, man koͤnne mit dem Abfahren bis halb
5 Uhr warten, ob der Regen nicht aͤufhoͤre?
Aber laͤnger nicht! — Als der Kaffee getrunken
war, ſtellte ſich Kronhelm mit Thereſen wieder
aus Fenſter. Der Regen hielt noch an, und die
Hofnung verſchwand immer mehr, daß Thereſe
ſie begleiten koͤnne. Sie hoͤrten alle Viertelſtun-
den auf dem nahen Kirchthurm ſchlagen, und je-
der Glockenſchlag war ihnen ein Donnerton;
Mit jedem ſank ihr Muth mehr. — Der alte
Siegwart ſuchte ſie durch ſein Geſpraͤch etwas
auſzuheitern; ſie laͤchelten zuweilen, aber wie der
Mond, der durch Regenwolken ſchien. Der Tag
brach an, und roͤthete in etwas die Gewitterwol-
ken; endlich ward der Himmel blutroth. Es
ſchlug vier Uhr. Kronhelm bebte, als ers hoͤrte.
Er ſtand unbeweglich vor Thereſen. Endlich
gieng er in die Kammer, um ſich vollends anzu-
ziehen, und ſeine Sachen in Ordnung zu brin-
gen. Er kam wieder auf das Zimmer. Es
ſchlug ein Viertel. Herr Gott! wie die Zeit
eilt! ſagte Thereſe. Kronhelm holte ſeinen
Stock. Er ſtand, wie ein Verurtheilter da, der
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[423/0427] zerrißnen Gewitterwolken hervor, und goß ſein blaſſes, melancholiſches Licht auf die Liebenden her- unter. Sie betrachteten ihn lang am Fenſter; kuͤßten ſich zuweilen; ſprachen abgebrochne Worte, und fuͤhlten, was die Sprache nicht beſchreiben kann. — Um drey Uhr gieng Thereſe weg, um den Kaffee zu machen. Kronhelm ſprach von gleichguͤltigern Dingen mit Siegwart. Nach einer halben Stunde kam ſie wieder, und brach- te den Kaffee Der alte Siegwart kam auch. Er ſagte, man koͤnne mit dem Abfahren bis halb 5 Uhr warten, ob der Regen nicht aͤufhoͤre? Aber laͤnger nicht! — Als der Kaffee getrunken war, ſtellte ſich Kronhelm mit Thereſen wieder aus Fenſter. Der Regen hielt noch an, und die Hofnung verſchwand immer mehr, daß Thereſe ſie begleiten koͤnne. Sie hoͤrten alle Viertelſtun- den auf dem nahen Kirchthurm ſchlagen, und je- der Glockenſchlag war ihnen ein Donnerton; Mit jedem ſank ihr Muth mehr. — Der alte Siegwart ſuchte ſie durch ſein Geſpraͤch etwas auſzuheitern; ſie laͤchelten zuweilen, aber wie der Mond, der durch Regenwolken ſchien. Der Tag brach an, und roͤthete in etwas die Gewitterwol- ken; endlich ward der Himmel blutroth. Es ſchlug vier Uhr. Kronhelm bebte, als ers hoͤrte. Er ſtand unbeweglich vor Thereſen. Endlich gieng er in die Kammer, um ſich vollends anzu- ziehen, und ſeine Sachen in Ordnung zu brin- gen. Er kam wieder auf das Zimmer. Es ſchlug ein Viertel. Herr Gott! wie die Zeit eilt! ſagte Thereſe. Kronhelm holte ſeinen Stock. Er ſtand, wie ein Verurtheilter da, der nun alle Augenblicke zum Tod gefuͤhrt werden ſoll. Endlich ſchlugs halb. — Nun, wir muͤſſen

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Zitationshilfe: Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 1. Leipzig, 1776, S. 423. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/miller_siegwart01_1776/427>, abgerufen am 29.04.2024.