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Jean Paul: Titan. Bd. 3. Berlin, 1802.

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"len Bäume mich drücken; ich könnte nicht dem
"langen Käfer da unten in den Weg treten."
"Sollte man, (versetzte sie,) je anders fühlen?
"Wie kann ein Mensch, dacht' ich oft, der eine
"Mutter hat und ihre Liebe kennt, das Herz
"einer Thiermutter so kränken und zerreissen?
"Aber wir vergeben den Thieren, sagt Spener,
"auch nicht einmal ihre Tugenden." -- "Laß
"uns zu ihm" sagt' er.

Sie kamen ausserhalb der Morgenthore
an dem Bergweg hinter dem Flötenthal oben
an dem mittagshellen Häuschen des alten Spe¬
ners an; aber da sie ihn laut lesen und beten
hörten, giengen sie lieber in großer Ferne vor¬
über, um seinen heiligen Himmel nicht ein¬
mal ihren Schatten zu werfen.

Sie schaueten ins schöne, stille Flötenthal
und wollten eben hinein; endlich sprach es zu
ihnen mit Einer Flöte hinauf. Ihre Freunde
schienen drunten zu seyn. Die Flöte klagte
lange einsam und verlassen fort, keine Schwe¬
stern und keine Fontainen rauschten darein.
Endlich keuchte neben der Flöte eine scheue, zit¬
ternde Singstimme angestrengt daher. Es war

„len Bäume mich drücken; ich könnte nicht dem
„langen Käfer da unten in den Weg treten.“
„Sollte man, (verſetzte ſie,) je anders fühlen?
„Wie kann ein Menſch, dacht' ich oft, der eine
„Mutter hat und ihre Liebe kennt, das Herz
„einer Thiermutter ſo kränken und zerreiſſen?
„Aber wir vergeben den Thieren, ſagt Spener,
„auch nicht einmal ihre Tugenden.“ — „Laß
„uns zu ihm“ ſagt' er.

Sie kamen auſſerhalb der Morgenthore
an dem Bergweg hinter dem Flötenthal oben
an dem mittagshellen Häuschen des alten Spe¬
ners an; aber da ſie ihn laut leſen und beten
hörten, giengen ſie lieber in großer Ferne vor¬
über, um ſeinen heiligen Himmel nicht ein¬
mal ihren Schatten zu werfen.

Sie ſchaueten ins ſchöne, ſtille Flötenthal
und wollten eben hinein; endlich ſprach es zu
ihnen mit Einer Flöte hinauf. Ihre Freunde
ſchienen drunten zu ſeyn. Die Flöte klagte
lange einſam und verlaſſen fort, keine Schwe¬
ſtern und keine Fontainen rauſchten darein.
Endlich keuchte neben der Flöte eine ſcheue, zit¬
ternde Singſtimme angeſtrengt daher. Es war

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[69/0081] „len Bäume mich drücken; ich könnte nicht dem „langen Käfer da unten in den Weg treten.“ „Sollte man, (verſetzte ſie,) je anders fühlen? „Wie kann ein Menſch, dacht' ich oft, der eine „Mutter hat und ihre Liebe kennt, das Herz „einer Thiermutter ſo kränken und zerreiſſen? „Aber wir vergeben den Thieren, ſagt Spener, „auch nicht einmal ihre Tugenden.“ — „Laß „uns zu ihm“ ſagt' er. Sie kamen auſſerhalb der Morgenthore an dem Bergweg hinter dem Flötenthal oben an dem mittagshellen Häuschen des alten Spe¬ ners an; aber da ſie ihn laut leſen und beten hörten, giengen ſie lieber in großer Ferne vor¬ über, um ſeinen heiligen Himmel nicht ein¬ mal ihren Schatten zu werfen. Sie ſchaueten ins ſchöne, ſtille Flötenthal und wollten eben hinein; endlich ſprach es zu ihnen mit Einer Flöte hinauf. Ihre Freunde ſchienen drunten zu ſeyn. Die Flöte klagte lange einſam und verlaſſen fort, keine Schwe¬ ſtern und keine Fontainen rauſchten darein. Endlich keuchte neben der Flöte eine ſcheue, zit¬ ternde Singſtimme angeſtrengt daher. Es war

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Zitationshilfe: Jean Paul: Titan. Bd. 3. Berlin, 1802, S. 69. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/paul_titan03_1802/81>, abgerufen am 29.04.2024.