Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Rétif de La Bretonne, Nicolas-Edme: Der fliegende Mensch. Übers. v. Wilhelm Christhelf Siegmund Mylius. 2. Aufl. Dresden u. a., 1785.

Bild:
<< vorherige Seite


-- Aus euren Büchern habe ich gesehn, daß
ihr Europäer, wahre Kinder in der Naturlehre,
eine kindische Vorstellung von Bildung der Dinge
habt, und euch die Erde, die Sonne und die
Gestirne nach menschlicher Weise vorgestelt. Alles
ist gezeugt; nichts geschaffen. Alles stirbt, nichts
wird vernichtet. Alles geht aus seinen eignen
Ruinen hervor; nichts wird von neuem hervorge-
bracht; denn alles was da ist, war beständig und
der grosse Beseeler war nie entblößt. Wenn Thie-
re und Pflanzen bei dem Tode eines Planeten un-
tergehn, so werden sie zwar dem Scheine nach zer-
nichtet; aber sie werden blos aufgelöst und in ih-
re Anfänge zurückgesetzt: ihre Keime, des Lebens
fähig, und ihre Seele sind unzernichtbar und erwar-
ten zur Beseelung und Wiederbelebung der Materie
blos eine schickliche Mischung. Wenn also die
schöpferische Sonne einen Planeten aus seinem
Schoosse wirft, so wird, vermöge der Kraft sei-
ner Bewegung ein Komet daraus, der in einigen
Tausend Jahren sich nach und nach der beinah zir-
kelförmigen Bewegung der Planeten nähert *) und
die zu Hervorbringung neuer Vegetabilien, Jnsek-
ten und Thiere, nöthige Mässigung wieder an-

nimmt.
*) Ein Beweis, daß der Zirkel der Planeten sich ver-
kürzt und sie der Sonne sich nähern, ist, daß in
hundert Jahren das Jahr um 3 Sekunden kürzer
wird. Man kan daher aufs genauste ausrechnen,
wie lange unsre Erdkugel bis zur Verzehrung von
der Sonne noch zu leben hat.


— Aus euren Buͤchern habe ich geſehn, daß
ihr Europaͤer, wahre Kinder in der Naturlehre,
eine kindiſche Vorſtellung von Bildung der Dinge
habt, und euch die Erde, die Sonne und die
Geſtirne nach menſchlicher Weiſe vorgeſtelt. Alles
iſt gezeugt; nichts geſchaffen. Alles ſtirbt, nichts
wird vernichtet. Alles geht aus ſeinen eignen
Ruinen hervor; nichts wird von neuem hervorge-
bracht; denn alles was da iſt, war beſtaͤndig und
der groſſe Beſeeler war nie entbloͤßt. Wenn Thie-
re und Pflanzen bei dem Tode eines Planeten un-
tergehn, ſo werden ſie zwar dem Scheine nach zer-
nichtet; aber ſie werden blos aufgeloͤſt und in ih-
re Anfaͤnge zuruͤckgeſetzt: ihre Keime, des Lebens
faͤhig, und ihre Seele ſind unzernichtbar und erwar-
ten zur Beſeelung und Wiederbelebung der Materie
blos eine ſchickliche Miſchung. Wenn alſo die
ſchoͤpferiſche Sonne einen Planeten aus ſeinem
Schooſſe wirft, ſo wird, vermoͤge der Kraft ſei-
ner Bewegung ein Komet daraus, der in einigen
Tauſend Jahren ſich nach und nach der beinah zir-
kelfoͤrmigen Bewegung der Planeten naͤhert *) und
die zu Hervorbringung neuer Vegetabilien, Jnſek-
ten und Thiere, noͤthige Maͤſſigung wieder an-

nimmt.
*) Ein Beweis, daß der Zirkel der Planeten ſich ver-
kuͤrzt und ſie der Sonne ſich naͤhern, iſt, daß in
hundert Jahren das Jahr um 3 Sekunden kuͤrzer
wird. Man kan daher aufs genauſte ausrechnen,
wie lange unſre Erdkugel bis zur Verzehrung von
der Sonne noch zu leben hat.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <pb facs="#f0312" n="304"/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
          <p>&#x2014; Aus euren Bu&#x0364;chern habe ich ge&#x017F;ehn, daß<lb/>
ihr Europa&#x0364;er, wahre Kinder in der Naturlehre,<lb/>
eine kindi&#x017F;che Vor&#x017F;tellung von Bildung der Dinge<lb/>
habt, und euch die Erde, die Sonne und die<lb/>
Ge&#x017F;tirne nach men&#x017F;chlicher Wei&#x017F;e vorge&#x017F;telt. Alles<lb/>
i&#x017F;t gezeugt; nichts ge&#x017F;chaffen. Alles &#x017F;tirbt, nichts<lb/>
wird vernichtet. Alles geht aus &#x017F;einen eignen<lb/>
Ruinen hervor; nichts wird von neuem hervorge-<lb/>
bracht; denn alles was da i&#x017F;t, war be&#x017F;ta&#x0364;ndig und<lb/>
der gro&#x017F;&#x017F;e Be&#x017F;eeler war nie entblo&#x0364;ßt. Wenn Thie-<lb/>
re und Pflanzen bei dem Tode eines Planeten un-<lb/>
tergehn, &#x017F;o werden &#x017F;ie zwar dem Scheine nach zer-<lb/>
nichtet; aber &#x017F;ie werden blos aufgelo&#x0364;&#x017F;t und in ih-<lb/>
re Anfa&#x0364;nge zuru&#x0364;ckge&#x017F;etzt: ihre Keime, des Lebens<lb/>
fa&#x0364;hig, und ihre Seele &#x017F;ind unzernichtbar und erwar-<lb/>
ten zur Be&#x017F;eelung und Wiederbelebung der Materie<lb/>
blos eine &#x017F;chickliche Mi&#x017F;chung. Wenn al&#x017F;o die<lb/>
&#x017F;cho&#x0364;pferi&#x017F;che Sonne einen Planeten aus &#x017F;einem<lb/>
Schoo&#x017F;&#x017F;e wirft, &#x017F;o wird, vermo&#x0364;ge der Kraft &#x017F;ei-<lb/>
ner Bewegung ein Komet daraus, der in einigen<lb/>
Tau&#x017F;end Jahren &#x017F;ich nach und nach der beinah zir-<lb/>
kelfo&#x0364;rmigen Bewegung der Planeten na&#x0364;hert <note place="foot" n="*)">Ein Beweis, daß der Zirkel der Planeten &#x017F;ich ver-<lb/>
ku&#x0364;rzt und &#x017F;ie der Sonne &#x017F;ich na&#x0364;hern, i&#x017F;t, daß in<lb/>
hundert Jahren das Jahr um 3 Sekunden ku&#x0364;rzer<lb/>
wird. Man kan daher aufs genau&#x017F;te ausrechnen,<lb/>
wie lange un&#x017F;re Erdkugel bis zur Verzehrung von<lb/>
der Sonne noch zu leben hat.</note> und<lb/>
die zu Hervorbringung neuer Vegetabilien, Jn&#x017F;ek-<lb/>
ten und Thiere, no&#x0364;thige Ma&#x0364;&#x017F;&#x017F;igung wieder an-<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">nimmt.</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[304/0312] — Aus euren Buͤchern habe ich geſehn, daß ihr Europaͤer, wahre Kinder in der Naturlehre, eine kindiſche Vorſtellung von Bildung der Dinge habt, und euch die Erde, die Sonne und die Geſtirne nach menſchlicher Weiſe vorgeſtelt. Alles iſt gezeugt; nichts geſchaffen. Alles ſtirbt, nichts wird vernichtet. Alles geht aus ſeinen eignen Ruinen hervor; nichts wird von neuem hervorge- bracht; denn alles was da iſt, war beſtaͤndig und der groſſe Beſeeler war nie entbloͤßt. Wenn Thie- re und Pflanzen bei dem Tode eines Planeten un- tergehn, ſo werden ſie zwar dem Scheine nach zer- nichtet; aber ſie werden blos aufgeloͤſt und in ih- re Anfaͤnge zuruͤckgeſetzt: ihre Keime, des Lebens faͤhig, und ihre Seele ſind unzernichtbar und erwar- ten zur Beſeelung und Wiederbelebung der Materie blos eine ſchickliche Miſchung. Wenn alſo die ſchoͤpferiſche Sonne einen Planeten aus ſeinem Schooſſe wirft, ſo wird, vermoͤge der Kraft ſei- ner Bewegung ein Komet daraus, der in einigen Tauſend Jahren ſich nach und nach der beinah zir- kelfoͤrmigen Bewegung der Planeten naͤhert *) und die zu Hervorbringung neuer Vegetabilien, Jnſek- ten und Thiere, noͤthige Maͤſſigung wieder an- nimmt. *) Ein Beweis, daß der Zirkel der Planeten ſich ver- kuͤrzt und ſie der Sonne ſich naͤhern, iſt, daß in hundert Jahren das Jahr um 3 Sekunden kuͤrzer wird. Man kan daher aufs genauſte ausrechnen, wie lange unſre Erdkugel bis zur Verzehrung von der Sonne noch zu leben hat.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/retif_mensch_1785
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/retif_mensch_1785/312
Zitationshilfe: Rétif de La Bretonne, Nicolas-Edme: Der fliegende Mensch. Übers. v. Wilhelm Christhelf Siegmund Mylius. 2. Aufl. Dresden u. a., 1785, S. 304. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/retif_mensch_1785/312>, abgerufen am 31.05.2024.