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[Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 1. Göttingen, 1748.

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Die Geschichte
wird dieses Lamm seinen Hals kaum vor deinem
Messer zurück ziehen. Allein werde ja an mei-
nem Lamm nicht zum Schlächter.

Werde es um so viel weniger um der Ursache
willen, die ich Dir jetzt melden will. Jhr artiges
Hertz empfindet etwas von Liebe: ihre sanfte
Brust schwillt von Etwas, dem sie noch keinen
Nahmen zu geben weiß. Jch belaurete sie ein-
mahl, als sie einem jungen Tischer, dessen Mut-
ter eine Witwe in der Nachbarschaft ist, bestän-
dig nachsahe, der nach ihrer Redens-Art in dem
kleinen weissen Hause über den Weg
wohnt.
Es scheint ein artiger junger Mensch zu seyn, ohn-
gefähr drey Jahr älter als sie. Da sie beyde
Spiel-Cameraden gewesen sind, er bis in das
achtzehnte und sie bis in das fünfzehnte Jahr, so
müssen sie jetzt desto fremder thun, obgleich in ih-
ren Hertzen der Grund zu einer viel nähern Be-
kantschaft lieget, als sie jemahls gehabt haben.
Denn ich habe bald gemerckt, daß sie sich von bey-
den Seiten lieben. Jch sahe von ihm immer ei-
nen Kratz-Fuß und Bückling, so bald er sein arti-
ges Kind gewahr ward, und er kehrte sich oft um,
ihrem Auge, das seinem Rücken nachfolgete, ei-
nen Blick zu geben. Wenn ein krummer Gang
ihn verhinderte sie zu sehen, so beugete er den gan-
tzen Leib herum, und nahm den Huth desto ehrer-
bietiger ab. Sie beantwortete dieses, ohne mich
zu sehen, weil ich mich hinter ihr verborgen hatte,
mit einem tieffen Knix, und mit einem Seufzer,
den er nicht hören konnte. Du glücklicher

Schelm!

Die Geſchichte
wird dieſes Lamm ſeinen Hals kaum vor deinem
Meſſer zuruͤck ziehen. Allein werde ja an mei-
nem Lamm nicht zum Schlaͤchter.

Werde es um ſo viel weniger um der Urſache
willen, die ich Dir jetzt melden will. Jhr artiges
Hertz empfindet etwas von Liebe: ihre ſanfte
Bruſt ſchwillt von Etwas, dem ſie noch keinen
Nahmen zu geben weiß. Jch belaurete ſie ein-
mahl, als ſie einem jungen Tiſcher, deſſen Mut-
ter eine Witwe in der Nachbarſchaft iſt, beſtaͤn-
dig nachſahe, der nach ihrer Redens-Art in dem
kleinen weiſſen Hauſe uͤber den Weg
wohnt.
Es ſcheint ein artiger junger Menſch zu ſeyn, ohn-
gefaͤhr drey Jahr aͤlter als ſie. Da ſie beyde
Spiel-Cameraden geweſen ſind, er bis in das
achtzehnte und ſie bis in das fuͤnfzehnte Jahr, ſo
muͤſſen ſie jetzt deſto fremder thun, obgleich in ih-
ren Hertzen der Grund zu einer viel naͤhern Be-
kantſchaft lieget, als ſie jemahls gehabt haben.
Denn ich habe bald gemerckt, daß ſie ſich von bey-
den Seiten lieben. Jch ſahe von ihm immer ei-
nen Kratz-Fuß und Buͤckling, ſo bald er ſein arti-
ges Kind gewahr ward, und er kehrte ſich oft um,
ihrem Auge, das ſeinem Ruͤcken nachfolgete, ei-
nen Blick zu geben. Wenn ein krummer Gang
ihn verhinderte ſie zu ſehen, ſo beugete er den gan-
tzen Leib herum, und nahm den Huth deſto ehrer-
bietiger ab. Sie beantwortete dieſes, ohne mich
zu ſehen, weil ich mich hinter ihr verborgen hatte,
mit einem tieffen Knix, und mit einem Seufzer,
den er nicht hoͤren konnte. Du gluͤcklicher

Schelm!
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[388/0408] Die Geſchichte wird dieſes Lamm ſeinen Hals kaum vor deinem Meſſer zuruͤck ziehen. Allein werde ja an mei- nem Lamm nicht zum Schlaͤchter. Werde es um ſo viel weniger um der Urſache willen, die ich Dir jetzt melden will. Jhr artiges Hertz empfindet etwas von Liebe: ihre ſanfte Bruſt ſchwillt von Etwas, dem ſie noch keinen Nahmen zu geben weiß. Jch belaurete ſie ein- mahl, als ſie einem jungen Tiſcher, deſſen Mut- ter eine Witwe in der Nachbarſchaft iſt, beſtaͤn- dig nachſahe, der nach ihrer Redens-Art in dem kleinen weiſſen Hauſe uͤber den Weg wohnt. Es ſcheint ein artiger junger Menſch zu ſeyn, ohn- gefaͤhr drey Jahr aͤlter als ſie. Da ſie beyde Spiel-Cameraden geweſen ſind, er bis in das achtzehnte und ſie bis in das fuͤnfzehnte Jahr, ſo muͤſſen ſie jetzt deſto fremder thun, obgleich in ih- ren Hertzen der Grund zu einer viel naͤhern Be- kantſchaft lieget, als ſie jemahls gehabt haben. Denn ich habe bald gemerckt, daß ſie ſich von bey- den Seiten lieben. Jch ſahe von ihm immer ei- nen Kratz-Fuß und Buͤckling, ſo bald er ſein arti- ges Kind gewahr ward, und er kehrte ſich oft um, ihrem Auge, das ſeinem Ruͤcken nachfolgete, ei- nen Blick zu geben. Wenn ein krummer Gang ihn verhinderte ſie zu ſehen, ſo beugete er den gan- tzen Leib herum, und nahm den Huth deſto ehrer- bietiger ab. Sie beantwortete dieſes, ohne mich zu ſehen, weil ich mich hinter ihr verborgen hatte, mit einem tieffen Knix, und mit einem Seufzer, den er nicht hoͤren konnte. Du gluͤcklicher Schelm!

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Zitationshilfe: [Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 1. Göttingen, 1748, S. 388. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa01_1748/408>, abgerufen am 02.05.2024.