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Roßmäßler, Emil Adolf: Der Wald. Leipzig u. a., 1863.

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Gesicht berührt das feinblickende Auge unangenehm, wenn es in seinen
zwei Hälften sich nicht völlig übereinstimmend zeigt.

Gleichwohl ist die ganze eine Hälfte der organischen Gestaltenwelt,
und zwar die umfangreichere, ohne Ebenmaaß: die Pflanzenwelt. Einzelne
Theile der höheren Gewächse, sehr viele Blüthen und Früchte, und auch
manche Pflanzen in ihrem ganzen Körper, z. B. die Mammillarien und
Echinokakten, Hutpilze etc. zeigen zwar Ebenmaaß, aber die sehr große
Mehrzahl der Gewächse, jedes als ein Individuum betrachtet, z. B. eine
Eiche, entbehrt des Ebenmaaßes.

Gegenüber unserem Verlangen nach Ebenmaaß da, wo wir es erfah-
rungsmäßig erwarten, ist es bemerkenswerth, daß wir es in der Pflanzen-
welt nicht nur nicht erwarten, sondern es uns ohne Mißbehagen gar nicht
denken können. Wem möchte nicht grauen vor einem Walde, in welchem
jeder Baum ein vollkommen ebenmäßiges Gebilde wäre mit regelmäßig
in gleichen Abständen und gleicher Richtung geordneten Zweigen und
Blättern und Blüthen. Annähernd zeigt sich dieses bei den Nadelhölzern,
und wie sehr dieses im Vergleich zu den frei sich gestaltenden Laubbäumen
auf unsern Schönheitssinn und unser Gemüth einwirkt, dessen müssen
wir uns sofort klar werden, wenn wir vergleichende Blicke auf einen mit
Fichten bestandenen Berghang und auf einen Eichenwald werfen.

Mit Schrecken denken die Aelteren unter uns noch an die Ueberreste
des altfranzösischen Gartengeschmackes mit den geschorenen Hecken und den
zu Pyramiden und Kuppeln und Scheiben beschnittenen Bäumen.

Das Ebenmaaß giebt also allein das Schöne nicht, diese ist vielmehr
von dem Ebenmaaß an sich völlig unabhängig und ist, wie es scheint,
etwas rein Erfahrungsmäßiges, durch die Natur vermittelst der sinnlichen
Wahrnehmung uns Eingepflanztes.

Wie ganz anders ist es mit unserem Urtheil über das Ebenmaaß bei
den Thieren. Wie wir den Baum, den Strauch, ja selbst den Grasstock
in seiner malerischen Ungebundenheit lieben, so widert uns ein krankhaft
verunstaltetes Thier an, an welchem durch einseitige Ausschreitung das
Rechts und Links seiner Körpergestalt ungleich geworden sind, das Eben-
maaß dadurch aufgehoben ist.

Das durch eine geschwollene Wange seines Ebenmaaßes beraubte
Gesicht reizt unwiderstehlich unser Lachen, wie ein an sich ganz gesunder

Geſicht berührt das feinblickende Auge unangenehm, wenn es in ſeinen
zwei Hälften ſich nicht völlig übereinſtimmend zeigt.

Gleichwohl iſt die ganze eine Hälfte der organiſchen Geſtaltenwelt,
und zwar die umfangreichere, ohne Ebenmaaß: die Pflanzenwelt. Einzelne
Theile der höheren Gewächſe, ſehr viele Blüthen und Früchte, und auch
manche Pflanzen in ihrem ganzen Körper, z. B. die Mammillarien und
Echinokakten, Hutpilze ꝛc. zeigen zwar Ebenmaaß, aber die ſehr große
Mehrzahl der Gewächſe, jedes als ein Individuum betrachtet, z. B. eine
Eiche, entbehrt des Ebenmaaßes.

Gegenüber unſerem Verlangen nach Ebenmaaß da, wo wir es erfah-
rungsmäßig erwarten, iſt es bemerkenswerth, daß wir es in der Pflanzen-
welt nicht nur nicht erwarten, ſondern es uns ohne Mißbehagen gar nicht
denken können. Wem möchte nicht grauen vor einem Walde, in welchem
jeder Baum ein vollkommen ebenmäßiges Gebilde wäre mit regelmäßig
in gleichen Abſtänden und gleicher Richtung geordneten Zweigen und
Blättern und Blüthen. Annähernd zeigt ſich dieſes bei den Nadelhölzern,
und wie ſehr dieſes im Vergleich zu den frei ſich geſtaltenden Laubbäumen
auf unſern Schönheitsſinn und unſer Gemüth einwirkt, deſſen müſſen
wir uns ſofort klar werden, wenn wir vergleichende Blicke auf einen mit
Fichten beſtandenen Berghang und auf einen Eichenwald werfen.

Mit Schrecken denken die Aelteren unter uns noch an die Ueberreſte
des altfranzöſiſchen Gartengeſchmackes mit den geſchorenen Hecken und den
zu Pyramiden und Kuppeln und Scheiben beſchnittenen Bäumen.

Das Ebenmaaß giebt alſo allein das Schöne nicht, dieſe iſt vielmehr
von dem Ebenmaaß an ſich völlig unabhängig und iſt, wie es ſcheint,
etwas rein Erfahrungsmäßiges, durch die Natur vermittelſt der ſinnlichen
Wahrnehmung uns Eingepflanztes.

Wie ganz anders iſt es mit unſerem Urtheil über das Ebenmaaß bei
den Thieren. Wie wir den Baum, den Strauch, ja ſelbſt den Grasſtock
in ſeiner maleriſchen Ungebundenheit lieben, ſo widert uns ein krankhaft
verunſtaltetes Thier an, an welchem durch einſeitige Ausſchreitung das
Rechts und Links ſeiner Körpergeſtalt ungleich geworden ſind, das Eben-
maaß dadurch aufgehoben iſt.

Das durch eine geſchwollene Wange ſeines Ebenmaaßes beraubte
Geſicht reizt unwiderſtehlich unſer Lachen, wie ein an ſich ganz geſunder

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[22/0046] Geſicht berührt das feinblickende Auge unangenehm, wenn es in ſeinen zwei Hälften ſich nicht völlig übereinſtimmend zeigt. Gleichwohl iſt die ganze eine Hälfte der organiſchen Geſtaltenwelt, und zwar die umfangreichere, ohne Ebenmaaß: die Pflanzenwelt. Einzelne Theile der höheren Gewächſe, ſehr viele Blüthen und Früchte, und auch manche Pflanzen in ihrem ganzen Körper, z. B. die Mammillarien und Echinokakten, Hutpilze ꝛc. zeigen zwar Ebenmaaß, aber die ſehr große Mehrzahl der Gewächſe, jedes als ein Individuum betrachtet, z. B. eine Eiche, entbehrt des Ebenmaaßes. Gegenüber unſerem Verlangen nach Ebenmaaß da, wo wir es erfah- rungsmäßig erwarten, iſt es bemerkenswerth, daß wir es in der Pflanzen- welt nicht nur nicht erwarten, ſondern es uns ohne Mißbehagen gar nicht denken können. Wem möchte nicht grauen vor einem Walde, in welchem jeder Baum ein vollkommen ebenmäßiges Gebilde wäre mit regelmäßig in gleichen Abſtänden und gleicher Richtung geordneten Zweigen und Blättern und Blüthen. Annähernd zeigt ſich dieſes bei den Nadelhölzern, und wie ſehr dieſes im Vergleich zu den frei ſich geſtaltenden Laubbäumen auf unſern Schönheitsſinn und unſer Gemüth einwirkt, deſſen müſſen wir uns ſofort klar werden, wenn wir vergleichende Blicke auf einen mit Fichten beſtandenen Berghang und auf einen Eichenwald werfen. Mit Schrecken denken die Aelteren unter uns noch an die Ueberreſte des altfranzöſiſchen Gartengeſchmackes mit den geſchorenen Hecken und den zu Pyramiden und Kuppeln und Scheiben beſchnittenen Bäumen. Das Ebenmaaß giebt alſo allein das Schöne nicht, dieſe iſt vielmehr von dem Ebenmaaß an ſich völlig unabhängig und iſt, wie es ſcheint, etwas rein Erfahrungsmäßiges, durch die Natur vermittelſt der ſinnlichen Wahrnehmung uns Eingepflanztes. Wie ganz anders iſt es mit unſerem Urtheil über das Ebenmaaß bei den Thieren. Wie wir den Baum, den Strauch, ja ſelbſt den Grasſtock in ſeiner maleriſchen Ungebundenheit lieben, ſo widert uns ein krankhaft verunſtaltetes Thier an, an welchem durch einſeitige Ausſchreitung das Rechts und Links ſeiner Körpergeſtalt ungleich geworden ſind, das Eben- maaß dadurch aufgehoben iſt. Das durch eine geſchwollene Wange ſeines Ebenmaaßes beraubte Geſicht reizt unwiderſtehlich unſer Lachen, wie ein an ſich ganz geſunder

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Zitationshilfe: Roßmäßler, Emil Adolf: Der Wald. Leipzig u. a., 1863, S. 22. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rossmaessler_wald_1863/46>, abgerufen am 28.04.2024.