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Roßmäßler, Emil Adolf: Der Wald. Leipzig u. a., 1863.

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Mensch mit einer hohen Schulter unser Mitleid erregt. So schuf die
griechische Sage Cyklopen einäugig nicht durch ein fehlendes Auge, sondern
statt der fehlenden beiden Augen setzte sie ihnen das nur eine in die Mitte
der Stirn, um das menschliche Ebenmaaß zu wahren. So erhielten sie
hierdurch, wie es sollte, etwas Schreckliches, während sie auf die andere
Art etwas Lächerliches oder Bedauernswürdiges gehabt haben würden.
Und in der That hat die Störung des Ebenmaaßes nicht nur etwas den
Geschmack Verletzendes, etwas Widerwärtiges, sondern sehr oft auch
etwas Lächerliches."

Meine Leser und Leserinnen werden ohne Zweifel dieser Anschauung
beistimmen; aber indem ich dies voraussetzen darf, kann ich Etwas nicht
ungesagt lassen. Es könnte in diesem ästhetischen Urtheil möglicherweise
die Meinung vermuthet werden, die Natur habe sich dem gebildeten Ge-
schmack der Menschheit anbequemt, welche Meinung mit jener zusammen-
fallen würde, die den Menschen zum Mittelpunkte der Schöpfung macht
und Alles seinem Interesse unterordnet. Dieses anmaßende Urtheil, welches
gerade diejenigen haben, die sich die Demüthigsten nennen, ist unschwer
zu widerlegen. Nicht der Baum und das Pflanzenreich ist nach dem Ge-
schmack des Menschen eingerichtet, sondern der Geschmack der Menschen
hat sich nach und an jenen gebildet. Der an Laubornamenten und Spitz-
bögen und Rosen überreiche altdeutsche Baustyl weist eben so sehr auf
unsern deutschen Wald hin, wie der altgriechische Säulenstyl auf die ein-
fach schöne Palme des Südens.

Unser Ziel darf nicht sein, einer erträumten Zweckmäßigkeitsordnung
nachzujagen, sondern die verborgenen Verknüpfungen von Ursache und
Wirkung aufzusuchen und uns zu freuen, wenn es uns einmal gelang,
eine Erscheinung, die bisher als ein unvermitteltes Räthsel vor uns stand,
in jenen Zusammenhang einzureihen.

Wir haben es eben mit dem Baume versucht. Er steht jetzt nicht
mehr als eine Erscheinung für sich da; wir begreifen dies jetzt und es ist
sicher ein Gewinn zu nennen, daß wir die Erscheinung so weit begriffen,
uns klar zu werden, daß Alles zusammen stimmt. Und in der schönen
Harmonie, in welche unsers Inneres einstimmt, tönt der Baum in seinem
Blätterrauschen als ein leitender Akkord hindurch.

Menſch mit einer hohen Schulter unſer Mitleid erregt. So ſchuf die
griechiſche Sage Cyklopen einäugig nicht durch ein fehlendes Auge, ſondern
ſtatt der fehlenden beiden Augen ſetzte ſie ihnen das nur eine in die Mitte
der Stirn, um das menſchliche Ebenmaaß zu wahren. So erhielten ſie
hierdurch, wie es ſollte, etwas Schreckliches, während ſie auf die andere
Art etwas Lächerliches oder Bedauernswürdiges gehabt haben würden.
Und in der That hat die Störung des Ebenmaaßes nicht nur etwas den
Geſchmack Verletzendes, etwas Widerwärtiges, ſondern ſehr oft auch
etwas Lächerliches.“

Meine Leſer und Leſerinnen werden ohne Zweifel dieſer Anſchauung
beiſtimmen; aber indem ich dies vorausſetzen darf, kann ich Etwas nicht
ungeſagt laſſen. Es könnte in dieſem äſthetiſchen Urtheil möglicherweiſe
die Meinung vermuthet werden, die Natur habe ſich dem gebildeten Ge-
ſchmack der Menſchheit anbequemt, welche Meinung mit jener zuſammen-
fallen würde, die den Menſchen zum Mittelpunkte der Schöpfung macht
und Alles ſeinem Intereſſe unterordnet. Dieſes anmaßende Urtheil, welches
gerade diejenigen haben, die ſich die Demüthigſten nennen, iſt unſchwer
zu widerlegen. Nicht der Baum und das Pflanzenreich iſt nach dem Ge-
ſchmack des Menſchen eingerichtet, ſondern der Geſchmack der Menſchen
hat ſich nach und an jenen gebildet. Der an Laubornamenten und Spitz-
bögen und Roſen überreiche altdeutſche Bauſtyl weiſt eben ſo ſehr auf
unſern deutſchen Wald hin, wie der altgriechiſche Säulenſtyl auf die ein-
fach ſchöne Palme des Südens.

Unſer Ziel darf nicht ſein, einer erträumten Zweckmäßigkeitsordnung
nachzujagen, ſondern die verborgenen Verknüpfungen von Urſache und
Wirkung aufzuſuchen und uns zu freuen, wenn es uns einmal gelang,
eine Erſcheinung, die bisher als ein unvermitteltes Räthſel vor uns ſtand,
in jenen Zuſammenhang einzureihen.

Wir haben es eben mit dem Baume verſucht. Er ſteht jetzt nicht
mehr als eine Erſcheinung für ſich da; wir begreifen dies jetzt und es iſt
ſicher ein Gewinn zu nennen, daß wir die Erſcheinung ſo weit begriffen,
uns klar zu werden, daß Alles zuſammen ſtimmt. Und in der ſchönen
Harmonie, in welche unſers Inneres einſtimmt, tönt der Baum in ſeinem
Blätterrauſchen als ein leitender Akkord hindurch.

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[23/0047] Menſch mit einer hohen Schulter unſer Mitleid erregt. So ſchuf die griechiſche Sage Cyklopen einäugig nicht durch ein fehlendes Auge, ſondern ſtatt der fehlenden beiden Augen ſetzte ſie ihnen das nur eine in die Mitte der Stirn, um das menſchliche Ebenmaaß zu wahren. So erhielten ſie hierdurch, wie es ſollte, etwas Schreckliches, während ſie auf die andere Art etwas Lächerliches oder Bedauernswürdiges gehabt haben würden. Und in der That hat die Störung des Ebenmaaßes nicht nur etwas den Geſchmack Verletzendes, etwas Widerwärtiges, ſondern ſehr oft auch etwas Lächerliches.“ Meine Leſer und Leſerinnen werden ohne Zweifel dieſer Anſchauung beiſtimmen; aber indem ich dies vorausſetzen darf, kann ich Etwas nicht ungeſagt laſſen. Es könnte in dieſem äſthetiſchen Urtheil möglicherweiſe die Meinung vermuthet werden, die Natur habe ſich dem gebildeten Ge- ſchmack der Menſchheit anbequemt, welche Meinung mit jener zuſammen- fallen würde, die den Menſchen zum Mittelpunkte der Schöpfung macht und Alles ſeinem Intereſſe unterordnet. Dieſes anmaßende Urtheil, welches gerade diejenigen haben, die ſich die Demüthigſten nennen, iſt unſchwer zu widerlegen. Nicht der Baum und das Pflanzenreich iſt nach dem Ge- ſchmack des Menſchen eingerichtet, ſondern der Geſchmack der Menſchen hat ſich nach und an jenen gebildet. Der an Laubornamenten und Spitz- bögen und Roſen überreiche altdeutſche Bauſtyl weiſt eben ſo ſehr auf unſern deutſchen Wald hin, wie der altgriechiſche Säulenſtyl auf die ein- fach ſchöne Palme des Südens. Unſer Ziel darf nicht ſein, einer erträumten Zweckmäßigkeitsordnung nachzujagen, ſondern die verborgenen Verknüpfungen von Urſache und Wirkung aufzuſuchen und uns zu freuen, wenn es uns einmal gelang, eine Erſcheinung, die bisher als ein unvermitteltes Räthſel vor uns ſtand, in jenen Zuſammenhang einzureihen. Wir haben es eben mit dem Baume verſucht. Er ſteht jetzt nicht mehr als eine Erſcheinung für ſich da; wir begreifen dies jetzt und es iſt ſicher ein Gewinn zu nennen, daß wir die Erſcheinung ſo weit begriffen, uns klar zu werden, daß Alles zuſammen ſtimmt. Und in der ſchönen Harmonie, in welche unſers Inneres einſtimmt, tönt der Baum in ſeinem Blätterrauſchen als ein leitender Akkord hindurch.

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Zitationshilfe: Roßmäßler, Emil Adolf: Der Wald. Leipzig u. a., 1863, S. 23. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rossmaessler_wald_1863/47>, abgerufen am 28.04.2024.