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Rudolphi, Caroline Christiane Louise: Gemälde weiblicher Erziehung. Bd. 1. Heidelberg, 1807.

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noch unbekanntes Gedicht, oder eine Stelle aus
einem größeren eingeschrieben, wenn sie das Ge-
lernte gut hersagen. So bekommen sie selbst eine
kleine Sammlung für sich, wie es keine gedruckte
gibt, noch geben kann. Jn der schönen Jahrs-
zeit wird diese Stunde im Freien gehalten, dar-
nach ein Spaziergang gemacht, damit die ange-
schlagenen Saiten sanft und schön verklingen.
Oft gehet dann diese Stunde in eine botanische
über, oder sonst in eine naturhistorische. Oft wird
auch über den moralischen oder ästhetischen Gehalt
der gelesenen Gedichte unterwegs noch weiter
gesprochen. Oft erzähle ich ihnen, während wir
umherschweifen, oder auf schönen Plätzen aus-
ruhen, einzelne Züge aus der Geschichte, und
lasse sie mir am andern Tage von ihnen wieder
erzählen.

Mit fast stolzer Freude sehe ich, wie sich Geist,
Sinn und Körper bei den drei Mädchen so herr-
lich entfalten. Krank war noch keine. Und so
verschieden die Kinder auch seyn mögen, so ist doch
eine solche Jnnigkeit der Liebe unter ihnen, daß

noch unbekanntes Gedicht, oder eine Stelle aus
einem größeren eingeſchrieben, wenn ſie das Ge-
lernte gut herſagen. So bekommen ſie ſelbſt eine
kleine Sammlung für ſich, wie es keine gedruckte
gibt, noch geben kann. Jn der ſchönen Jahrs-
zeit wird dieſe Stunde im Freien gehalten, dar-
nach ein Spaziergang gemacht, damit die ange-
ſchlagenen Saiten ſanft und ſchön verklingen.
Oft gehet dann dieſe Stunde in eine botaniſche
über, oder ſonſt in eine naturhiſtoriſche. Oft wird
auch über den moraliſchen oder äſthetiſchen Gehalt
der geleſenen Gedichte unterwegs noch weiter
geſprochen. Oft erzähle ich ihnen, während wir
umherſchweifen, oder auf ſchönen Plätzen aus-
ruhen, einzelne Züge aus der Geſchichte, und
laſſe ſie mir am andern Tage von ihnen wieder
erzählen.

Mit faſt ſtolzer Freude ſehe ich, wie ſich Geiſt,
Sinn und Körper bei den drei Mädchen ſo herr-
lich entfalten. Krank war noch keine. Und ſo
verſchieden die Kinder auch ſeyn mögen, ſo iſt doch
eine ſolche Jnnigkeit der Liebe unter ihnen, daß

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[288/0302] noch unbekanntes Gedicht, oder eine Stelle aus einem größeren eingeſchrieben, wenn ſie das Ge- lernte gut herſagen. So bekommen ſie ſelbſt eine kleine Sammlung für ſich, wie es keine gedruckte gibt, noch geben kann. Jn der ſchönen Jahrs- zeit wird dieſe Stunde im Freien gehalten, dar- nach ein Spaziergang gemacht, damit die ange- ſchlagenen Saiten ſanft und ſchön verklingen. Oft gehet dann dieſe Stunde in eine botaniſche über, oder ſonſt in eine naturhiſtoriſche. Oft wird auch über den moraliſchen oder äſthetiſchen Gehalt der geleſenen Gedichte unterwegs noch weiter geſprochen. Oft erzähle ich ihnen, während wir umherſchweifen, oder auf ſchönen Plätzen aus- ruhen, einzelne Züge aus der Geſchichte, und laſſe ſie mir am andern Tage von ihnen wieder erzählen. Mit faſt ſtolzer Freude ſehe ich, wie ſich Geiſt, Sinn und Körper bei den drei Mädchen ſo herr- lich entfalten. Krank war noch keine. Und ſo verſchieden die Kinder auch ſeyn mögen, ſo iſt doch eine ſolche Jnnigkeit der Liebe unter ihnen, daß

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Zitationshilfe: Rudolphi, Caroline Christiane Louise: Gemälde weiblicher Erziehung. Bd. 1. Heidelberg, 1807, S. 288. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rudolphi_erziehung01_1807/302>, abgerufen am 29.04.2024.