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Rudolphi, Caroline Christiane Louise: Gemälde weiblicher Erziehung. Bd. 1. Heidelberg, 1807.

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kann ich nicht wissen, glaube es auch kaum: aber
so oft jemand, wer es auch sey, nur eine Vier-
telstunde bei uns war, so verläßt er uns nicht,
ohne uns durch Worte oder durch eine Verbeugung
Lebewohl zu sagen, das habt ihr täglich bemerken
können.

Mathilde. Ja, Tante, ich meyne, das
sey nur so eine Gewohnheit, bei der man sich fast
nichts denkt.

Jch. Wie bei allem, was uns sehr zur Ge-
wohnheit worden, das Bewußtseyn der Absicht oder
des Zweckes ganz verloren geht.

Mathilde. Aber warum thut man es denn
noch, wenn man sich nichts mehr dabei denkt?
Jst dies denn nicht ein bloßes Anstellen, wovon
du gesagt, daß es etwas sehr Unwürdiges sey?

Jch. Schon oft haben Menschen, denen die
Wahrheit über alles geht, darauf gedacht, für
sich alle diese Formen der bloßen Höflichkeit abzu-
schaffen, und keine Worte mehr zu gebrauchen,
bei denen man sich entweder nichts denkt, oder sich

kann ich nicht wiſſen, glaube es auch kaum: aber
ſo oft jemand, wer es auch ſey, nur eine Vier-
telſtunde bei uns war, ſo verläßt er uns nicht,
ohne uns durch Worte oder durch eine Verbeugung
Lebewohl zu ſagen, das habt ihr täglich bemerken
können.

Mathilde. Ja, Tante, ich meyne, das
ſey nur ſo eine Gewohnheit, bei der man ſich faſt
nichts denkt.

Jch. Wie bei allem, was uns ſehr zur Ge-
wohnheit worden, das Bewußtſeyn der Abſicht oder
des Zweckes ganz verloren geht.

Mathilde. Aber warum thut man es denn
noch, wenn man ſich nichts mehr dabei denkt?
Jſt dies denn nicht ein bloßes Anſtellen, wovon
du geſagt, daß es etwas ſehr Unwürdiges ſey?

Jch. Schon oft haben Menſchen, denen die
Wahrheit über alles geht, darauf gedacht, für
ſich alle dieſe Formen der bloßen Höflichkeit abzu-
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[310/0324] kann ich nicht wiſſen, glaube es auch kaum: aber ſo oft jemand, wer es auch ſey, nur eine Vier- telſtunde bei uns war, ſo verläßt er uns nicht, ohne uns durch Worte oder durch eine Verbeugung Lebewohl zu ſagen, das habt ihr täglich bemerken können. Mathilde. Ja, Tante, ich meyne, das ſey nur ſo eine Gewohnheit, bei der man ſich faſt nichts denkt. Jch. Wie bei allem, was uns ſehr zur Ge- wohnheit worden, das Bewußtſeyn der Abſicht oder des Zweckes ganz verloren geht. Mathilde. Aber warum thut man es denn noch, wenn man ſich nichts mehr dabei denkt? Jſt dies denn nicht ein bloßes Anſtellen, wovon du geſagt, daß es etwas ſehr Unwürdiges ſey? Jch. Schon oft haben Menſchen, denen die Wahrheit über alles geht, darauf gedacht, für ſich alle dieſe Formen der bloßen Höflichkeit abzu- ſchaffen, und keine Worte mehr zu gebrauchen, bei denen man ſich entweder nichts denkt, oder ſich

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Zitationshilfe: Rudolphi, Caroline Christiane Louise: Gemälde weiblicher Erziehung. Bd. 1. Heidelberg, 1807, S. 310. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rudolphi_erziehung01_1807/324>, abgerufen am 29.04.2024.