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Rudolphi, Caroline Christiane Louise: Gemälde weiblicher Erziehung. Bd. 1. Heidelberg, 1807.

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des Gedachten gar nicht mehr bewußt wird. Aber
die Frage war, was sie an die Stelle setzen soll-
ten? --

Clärchen. Muß man sich denn aber immer
etwas sagen? es wäre doch viel besser, sich nichts
zu sagen, als freundliche Worte, die nichts bedeu-
ten. Jrre ich, oder ist es so, liebe Tante?

Jch. Da hast du Recht, gutes Clärchen. --
Wenn die Worte der Höflichkeit so weit abgebraucht
sind, daß sie gar nichts mehr bedeuten, so spricht
ein wahrhaftes Gemüth sie auch nicht gern mehr
aus. Jndessen haben alle Völker und alle Natio-
nen in ihrer Sprache Worte und andere Gebräuche
der Höflichkeit gehabt, mit denen sie sich beym
Kommen und Gehen freundlich begrüßten. Es
muß also wohl im menschlichen Herzen ein Bedürf-
niß liegen, dem Andern unser Wohlwollen auszu-
drücken, besonders dann, wenn wir ihn eine
Weile nicht sahen, oder nicht sehen werden. Das
Begrüßen und Abschiednehmen, beim Kommen
und Gehen, kann keinen andern Ursprung haben
als diesen.

des Gedachten gar nicht mehr bewußt wird. Aber
die Frage war, was ſie an die Stelle ſetzen ſoll-
ten? —

Clärchen. Muß man ſich denn aber immer
etwas ſagen? es wäre doch viel beſſer, ſich nichts
zu ſagen, als freundliche Worte, die nichts bedeu-
ten. Jrre ich, oder iſt es ſo, liebe Tante?

Jch. Da haſt du Recht, gutes Clärchen. —
Wenn die Worte der Höflichkeit ſo weit abgebraucht
ſind, daß ſie gar nichts mehr bedeuten, ſo ſpricht
ein wahrhaftes Gemüth ſie auch nicht gern mehr
aus. Jndeſſen haben alle Völker und alle Natio-
nen in ihrer Sprache Worte und andere Gebräuche
der Höflichkeit gehabt, mit denen ſie ſich beym
Kommen und Gehen freundlich begrüßten. Es
muß alſo wohl im menſchlichen Herzen ein Bedürf-
niß liegen, dem Andern unſer Wohlwollen auszu-
drücken, beſonders dann, wenn wir ihn eine
Weile nicht ſahen, oder nicht ſehen werden. Das
Begrüßen und Abſchiednehmen, beim Kommen
und Gehen, kann keinen andern Urſprung haben
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[311/0325] des Gedachten gar nicht mehr bewußt wird. Aber die Frage war, was ſie an die Stelle ſetzen ſoll- ten? — Clärchen. Muß man ſich denn aber immer etwas ſagen? es wäre doch viel beſſer, ſich nichts zu ſagen, als freundliche Worte, die nichts bedeu- ten. Jrre ich, oder iſt es ſo, liebe Tante? Jch. Da haſt du Recht, gutes Clärchen. — Wenn die Worte der Höflichkeit ſo weit abgebraucht ſind, daß ſie gar nichts mehr bedeuten, ſo ſpricht ein wahrhaftes Gemüth ſie auch nicht gern mehr aus. Jndeſſen haben alle Völker und alle Natio- nen in ihrer Sprache Worte und andere Gebräuche der Höflichkeit gehabt, mit denen ſie ſich beym Kommen und Gehen freundlich begrüßten. Es muß alſo wohl im menſchlichen Herzen ein Bedürf- niß liegen, dem Andern unſer Wohlwollen auszu- drücken, beſonders dann, wenn wir ihn eine Weile nicht ſahen, oder nicht ſehen werden. Das Begrüßen und Abſchiednehmen, beim Kommen und Gehen, kann keinen andern Urſprung haben als dieſen.

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Zitationshilfe: Rudolphi, Caroline Christiane Louise: Gemälde weiblicher Erziehung. Bd. 1. Heidelberg, 1807, S. 311. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rudolphi_erziehung01_1807/325>, abgerufen am 29.04.2024.