Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Rudolphi, Caroline Christiane Louise: Gemälde weiblicher Erziehung. Bd. 1. Heidelberg, 1807.

Bild:
<< vorherige Seite

man die allgemeine Formel ausspricht. Ein geist-
voller Mensch, wie ein herzvoller, hat seine ei-
gene Sprache, und folgt dem hergebrachten Ge-
brauche nur im Allgemeinen, und nur da wo es
nöthig ist. Gebt Acht, meine Kinder, und straft
mich, so oft ihr mich Worte aussprechen hört,
die euch mit meinem Gefühl nicht zu stimmen schei-
nen. (Die Kinder sahen sich verwundert an,
als ob das in sich unmöglich sey.) Wir machen
also vor unserer Abreise den Abschiedsbesuch bei
den Damen unserer Bekanntschaft, weil --

Clärchen. Nicht wahr, Tante, weil es un-
freundlich wäre, auf sechs Monate aus der Stadt
zu gehen, ohne ihnen ein Zeichen zu geben, daß
sie uns nicht gleichgültig sind?

Jda. Und daß wir wünschen, daß sie unter-
dessen auch vergnügt und froh seyn mögen, wie
wir es sind?

Jch. So ist's, Kinder. Und wenn wir wie-
der kommen, zeigen wir uns ihnen, daß wir wie-
der da sind, und daß es uns lieb ist, zu hören,
wie es ihnen unterdessen ergangen, obgleich sie

man die allgemeine Formel ausſpricht. Ein geiſt-
voller Menſch, wie ein herzvoller, hat ſeine ei-
gene Sprache, und folgt dem hergebrachten Ge-
brauche nur im Allgemeinen, und nur da wo es
nöthig iſt. Gebt Acht, meine Kinder, und ſtraft
mich, ſo oft ihr mich Worte ausſprechen hört,
die euch mit meinem Gefühl nicht zu ſtimmen ſchei-
nen. (Die Kinder ſahen ſich verwundert an,
als ob das in ſich unmöglich ſey.) Wir machen
alſo vor unſerer Abreiſe den Abſchiedsbeſuch bei
den Damen unſerer Bekanntſchaft, weil —

Clärchen. Nicht wahr, Tante, weil es un-
freundlich wäre, auf ſechs Monate aus der Stadt
zu gehen, ohne ihnen ein Zeichen zu geben, daß
ſie uns nicht gleichgültig ſind?

Jda. Und daß wir wünſchen, daß ſie unter-
deſſen auch vergnügt und froh ſeyn mögen, wie
wir es ſind?

Jch. So iſt’s, Kinder. Und wenn wir wie-
der kommen, zeigen wir uns ihnen, daß wir wie-
der da ſind, und daß es uns lieb iſt, zu hören,
wie es ihnen unterdeſſen ergangen, obgleich ſie

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0329" n="315"/>
man die allgemeine Formel aus&#x017F;pricht. Ein gei&#x017F;t-<lb/>
voller Men&#x017F;ch, wie ein herzvoller, hat &#x017F;eine ei-<lb/>
gene Sprache, und folgt dem hergebrachten Ge-<lb/>
brauche nur im Allgemeinen, und nur da wo es<lb/>
nöthig i&#x017F;t. Gebt Acht, meine Kinder, und &#x017F;traft<lb/>
mich, &#x017F;o oft ihr mich Worte aus&#x017F;prechen hört,<lb/>
die euch mit meinem Gefühl nicht zu &#x017F;timmen &#x017F;chei-<lb/>
nen. (Die Kinder &#x017F;ahen &#x017F;ich verwundert an,<lb/>
als ob das in &#x017F;ich unmöglich &#x017F;ey.) Wir machen<lb/>
al&#x017F;o vor un&#x017F;erer Abrei&#x017F;e den Ab&#x017F;chiedsbe&#x017F;uch bei<lb/>
den Damen un&#x017F;erer Bekannt&#x017F;chaft, weil &#x2014;</p><lb/>
          <p><hi rendition="#g">Clärchen</hi>. Nicht wahr, Tante, weil es un-<lb/>
freundlich wäre, auf &#x017F;echs Monate aus der Stadt<lb/>
zu gehen, ohne ihnen ein Zeichen zu geben, daß<lb/>
&#x017F;ie uns nicht gleichgültig &#x017F;ind?</p><lb/>
          <p><hi rendition="#g">Jda</hi>. Und daß wir wün&#x017F;chen, daß &#x017F;ie unter-<lb/>
de&#x017F;&#x017F;en auch vergnügt und froh &#x017F;eyn mögen, wie<lb/>
wir es &#x017F;ind?</p><lb/>
          <p><hi rendition="#g">Jch</hi>. So i&#x017F;t&#x2019;s, Kinder. Und wenn wir wie-<lb/>
der kommen, zeigen wir uns ihnen, daß wir wie-<lb/>
der da &#x017F;ind, und daß es uns lieb i&#x017F;t, zu hören,<lb/>
wie es ihnen unterde&#x017F;&#x017F;en ergangen, obgleich &#x017F;ie<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[315/0329] man die allgemeine Formel ausſpricht. Ein geiſt- voller Menſch, wie ein herzvoller, hat ſeine ei- gene Sprache, und folgt dem hergebrachten Ge- brauche nur im Allgemeinen, und nur da wo es nöthig iſt. Gebt Acht, meine Kinder, und ſtraft mich, ſo oft ihr mich Worte ausſprechen hört, die euch mit meinem Gefühl nicht zu ſtimmen ſchei- nen. (Die Kinder ſahen ſich verwundert an, als ob das in ſich unmöglich ſey.) Wir machen alſo vor unſerer Abreiſe den Abſchiedsbeſuch bei den Damen unſerer Bekanntſchaft, weil — Clärchen. Nicht wahr, Tante, weil es un- freundlich wäre, auf ſechs Monate aus der Stadt zu gehen, ohne ihnen ein Zeichen zu geben, daß ſie uns nicht gleichgültig ſind? Jda. Und daß wir wünſchen, daß ſie unter- deſſen auch vergnügt und froh ſeyn mögen, wie wir es ſind? Jch. So iſt’s, Kinder. Und wenn wir wie- der kommen, zeigen wir uns ihnen, daß wir wie- der da ſind, und daß es uns lieb iſt, zu hören, wie es ihnen unterdeſſen ergangen, obgleich ſie

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/rudolphi_erziehung01_1807
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/rudolphi_erziehung01_1807/329
Zitationshilfe: Rudolphi, Caroline Christiane Louise: Gemälde weiblicher Erziehung. Bd. 1. Heidelberg, 1807, S. 315. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rudolphi_erziehung01_1807/329>, abgerufen am 30.04.2024.