ging. Jst das denn nicht deine Freundin? du hast sie doch lieb.
Jch. Das habe ich. Und ich bin gewiß, daß sie auch mich lieb hat.
Jda. Nun, liebe Tante, warum nennst du sie nicht Freundin? Jst denn das nicht Freund- schaft, wenn zwei Menschen sich recht herzlich gut sind?
Jch. Ja, das kann Freundschaft heißen, man sagt nichts Unwahres daran. Aber es gibt viele Stufen und Grade in der Freundschaft, und was man gewöhnlich so nennt, ist freilich oft nur ein geringer Grad.
Clärchen. Aber was ist denn nun Freund- schaft, im höchsten Sinne des Wortes, wie du sagst? Willst du uns nicht auch das sagen?
Jch. Dazu gehört, daß ein Paar Menschen sich stärker zu einander hingezogen fühlen, wie zu allen andern, denen sie auch gut sind. Dazu gehört, daß sie in ihren Neigungen, Wünschen und Urtheilen, in dem was sie lieben und nicht
ging. Jſt das denn nicht deine Freundin? du haſt ſie doch lieb.
Jch. Das habe ich. Und ich bin gewiß, daß ſie auch mich lieb hat.
Jda. Nun, liebe Tante, warum nennſt du ſie nicht Freundin? Jſt denn das nicht Freund- ſchaft, wenn zwei Menſchen ſich recht herzlich gut ſind?
Jch. Ja, das kann Freundſchaft heißen, man ſagt nichts Unwahres daran. Aber es gibt viele Stufen und Grade in der Freundſchaft, und was man gewöhnlich ſo nennt, iſt freilich oft nur ein geringer Grad.
Clärchen. Aber was iſt denn nun Freund- ſchaft, im höchſten Sinne des Wortes, wie du ſagſt? Willſt du uns nicht auch das ſagen?
Jch. Dazu gehört, daß ein Paar Menſchen ſich ſtärker zu einander hingezogen fühlen, wie zu allen andern, denen ſie auch gut ſind. Dazu gehört, daß ſie in ihren Neigungen, Wünſchen und Urtheilen, in dem was ſie lieben und nicht
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0331"n="317"/>
ging. Jſt das denn nicht deine Freundin? du<lb/>
haſt ſie doch lieb.</p><lb/><p><hirendition="#g">Jch</hi>. Das habe ich. Und ich bin gewiß, daß<lb/>ſie auch mich lieb hat.</p><lb/><p><hirendition="#g">Jda</hi>. Nun, liebe Tante, warum nennſt du<lb/>ſie nicht Freundin? Jſt denn das nicht Freund-<lb/>ſchaft, wenn zwei Menſchen ſich recht herzlich gut<lb/>ſind?</p><lb/><p><hirendition="#g">Jch</hi>. Ja, das kann Freundſchaft heißen, man<lb/>ſagt nichts Unwahres daran. Aber es gibt viele<lb/>
Stufen und Grade in der Freundſchaft, und was<lb/>
man gewöhnlich ſo nennt, iſt freilich oft nur ein<lb/>
geringer Grad.</p><lb/><p><hirendition="#g">Clärchen</hi>. Aber was iſt denn nun Freund-<lb/>ſchaft, im höchſten Sinne des Wortes, wie du<lb/>ſagſt? Willſt du uns nicht auch das ſagen?</p><lb/><p><hirendition="#g">Jch</hi>. Dazu gehört, daß ein Paar Menſchen<lb/>ſich ſtärker zu einander hingezogen fühlen, wie<lb/>
zu allen andern, denen ſie auch gut ſind. Dazu<lb/>
gehört, daß ſie in ihren Neigungen, Wünſchen<lb/>
und Urtheilen, in dem was ſie lieben und nicht<lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[317/0331]
ging. Jſt das denn nicht deine Freundin? du
haſt ſie doch lieb.
Jch. Das habe ich. Und ich bin gewiß, daß
ſie auch mich lieb hat.
Jda. Nun, liebe Tante, warum nennſt du
ſie nicht Freundin? Jſt denn das nicht Freund-
ſchaft, wenn zwei Menſchen ſich recht herzlich gut
ſind?
Jch. Ja, das kann Freundſchaft heißen, man
ſagt nichts Unwahres daran. Aber es gibt viele
Stufen und Grade in der Freundſchaft, und was
man gewöhnlich ſo nennt, iſt freilich oft nur ein
geringer Grad.
Clärchen. Aber was iſt denn nun Freund-
ſchaft, im höchſten Sinne des Wortes, wie du
ſagſt? Willſt du uns nicht auch das ſagen?
Jch. Dazu gehört, daß ein Paar Menſchen
ſich ſtärker zu einander hingezogen fühlen, wie
zu allen andern, denen ſie auch gut ſind. Dazu
gehört, daß ſie in ihren Neigungen, Wünſchen
und Urtheilen, in dem was ſie lieben und nicht
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Rudolphi, Caroline Christiane Louise: Gemälde weiblicher Erziehung. Bd. 1. Heidelberg, 1807, S. 317. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rudolphi_erziehung01_1807/331>, abgerufen am 29.04.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.