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Rudolphi, Caroline Christiane Louise: Gemälde weiblicher Erziehung. Bd. 2. Heidelberg, 1807.

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Weile in stiller Betrachtung am Bette der Ent-
schlafenen; dann führte ich die Meinen hinaus
in's Freie. Die Sterbeglocke, die auf den Dör-
fern das Verscheiden eines Mitgliedes der Ge-
meine sogleich ankündigt, wurde gezogen. Die
Kinder zerfloßen in lautem Weinen. Jch ließ sie
ausweinen, ging dann, und suchte den Pfarrer
auf, den ich mit seinen beiden Töchtern in den
ersten heiligsten Augenblicken ihrem Schmerze al-
lein überlassen hatte. Wir ordneten mit einan-
der das Nöthigste an. Bis zur Beerdigung wa-
ren wir alle den ganzen Tag im Hause; nur
Abends ging ich mit den Kindern in unser stilles
Gemach. Ganz furchtlos gingen die Kinder mehr-
mahls hinan an die entseelte, immer noch schöne,
Hülle, so lange sie noch unbeerdigt lag. -- Das
heißt also sterben? sagte Jda leise zu mir, als
wir mit einander das sanfte Lächeln der Miene,
und die ganz unentstellt heitern Züge des lieben
heiligen Angesichts gesehen und hinaus gegangen
waren. "O es ist mir sehr lieb, daß du mir er-
erlaubt hast, bis auf den letzten Augenblick da zu
bleiben. Nun fürcht' ich mich nicht mehr vor dem

Weile in ſtiller Betrachtung am Bette der Ent-
ſchlafenen; dann führte ich die Meinen hinaus
in’s Freie. Die Sterbeglocke, die auf den Dör-
fern das Verſcheiden eines Mitgliedes der Ge-
meine ſogleich ankündigt, wurde gezogen. Die
Kinder zerfloßen in lautem Weinen. Jch ließ ſie
ausweinen, ging dann, und ſuchte den Pfarrer
auf, den ich mit ſeinen beiden Töchtern in den
erſten heiligſten Augenblicken ihrem Schmerze al-
lein überlaſſen hatte. Wir ordneten mit einan-
der das Nöthigſte an. Bis zur Beerdigung wa-
ren wir alle den ganzen Tag im Hauſe; nur
Abends ging ich mit den Kindern in unſer ſtilles
Gemach. Ganz furchtlos gingen die Kinder mehr-
mahls hinan an die entſeelte, immer noch ſchöne,
Hülle, ſo lange ſie noch unbeerdigt lag. — Das
heißt alſo ſterben? ſagte Jda leiſe zu mir, als
wir mit einander das ſanfte Lächeln der Miene,
und die ganz unentſtellt heitern Züge des lieben
heiligen Angeſichts geſehen und hinaus gegangen
waren. „O es iſt mir ſehr lieb, daß du mir er-
erlaubt haſt, bis auf den letzten Augenblick da zu
bleiben. Nun fürcht’ ich mich nicht mehr vor dem

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[108/0116] Weile in ſtiller Betrachtung am Bette der Ent- ſchlafenen; dann führte ich die Meinen hinaus in’s Freie. Die Sterbeglocke, die auf den Dör- fern das Verſcheiden eines Mitgliedes der Ge- meine ſogleich ankündigt, wurde gezogen. Die Kinder zerfloßen in lautem Weinen. Jch ließ ſie ausweinen, ging dann, und ſuchte den Pfarrer auf, den ich mit ſeinen beiden Töchtern in den erſten heiligſten Augenblicken ihrem Schmerze al- lein überlaſſen hatte. Wir ordneten mit einan- der das Nöthigſte an. Bis zur Beerdigung wa- ren wir alle den ganzen Tag im Hauſe; nur Abends ging ich mit den Kindern in unſer ſtilles Gemach. Ganz furchtlos gingen die Kinder mehr- mahls hinan an die entſeelte, immer noch ſchöne, Hülle, ſo lange ſie noch unbeerdigt lag. — Das heißt alſo ſterben? ſagte Jda leiſe zu mir, als wir mit einander das ſanfte Lächeln der Miene, und die ganz unentſtellt heitern Züge des lieben heiligen Angeſichts geſehen und hinaus gegangen waren. „O es iſt mir ſehr lieb, daß du mir er- erlaubt haſt, bis auf den letzten Augenblick da zu bleiben. Nun fürcht’ ich mich nicht mehr vor dem

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Zitationshilfe: Rudolphi, Caroline Christiane Louise: Gemälde weiblicher Erziehung. Bd. 2. Heidelberg, 1807, S. 108. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rudolphi_erziehung02_1807/116>, abgerufen am 28.04.2024.