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Rudolphi, Caroline Christiane Louise: Gemälde weiblicher Erziehung. Bd. 2. Heidelberg, 1807.

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Gedanken. Aber wie vieles muß ich doch noch
fragen, was dazu gehört! Ach, ich kann so gar
vieles dabei noch nicht begreifen, und mir wird
so bang und beklommen, wann ich denke, daß
dieselbe theure Person, die im Momente noch so
liebend zu uns allen sprach, schon in der nächsten
Minute nichts mehr nach uns fragte und nichts
mehr von uns wußte; -- und wie sie nun so ohne
alle Theilnahme daliegt, uns nicht mehr tröstet!
O wie ist das so seltsam, leben und sterben! ich
kann es noch so wenig begreifen. Wie kann man
sterben, wenn man einmal wirklich gelebt --
und wie kann man wieder leben, wenn man
einmal so ganz gestorben ist, daß man nichts
mehr von allem weiß, was um uns geschieht."

Ganz begreifen wirst du das auch künftig nicht,
meine Jda. Es gibt noch außerdem viele Dinge,
die nicht zu begreifen stehen, und über die man
dennoch ohne allen Zweifel tief in der Seele ge-
wiß wird. "Aber wie ist es denn damit, beste
Tante?" -- "Begreifst du vielleicht die Kraft
des Lebens, die im späten Herbst aus der Natur

Gedanken. Aber wie vieles muß ich doch noch
fragen, was dazu gehört! Ach, ich kann ſo gar
vieles dabei noch nicht begreifen, und mir wird
ſo bang und beklommen, wann ich denke, daß
dieſelbe theure Perſon, die im Momente noch ſo
liebend zu uns allen ſprach, ſchon in der nächſten
Minute nichts mehr nach uns fragte und nichts
mehr von uns wußte; — und wie ſie nun ſo ohne
alle Theilnahme daliegt, uns nicht mehr tröſtet!
O wie iſt das ſo ſeltſam, leben und ſterben! ich
kann es noch ſo wenig begreifen. Wie kann man
ſterben, wenn man einmal wirklich gelebt —
und wie kann man wieder leben, wenn man
einmal ſo ganz geſtorben iſt, daß man nichts
mehr von allem weiß, was um uns geſchieht.‟

Ganz begreifen wirſt du das auch künftig nicht,
meine Jda. Es gibt noch außerdem viele Dinge,
die nicht zu begreifen ſtehen, und über die man
dennoch ohne allen Zweifel tief in der Seele ge-
wiß wird. „Aber wie iſt es denn damit, beſte
Tante?‟ — „Begreifſt du vielleicht die Kraft
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[109/0117] Gedanken. Aber wie vieles muß ich doch noch fragen, was dazu gehört! Ach, ich kann ſo gar vieles dabei noch nicht begreifen, und mir wird ſo bang und beklommen, wann ich denke, daß dieſelbe theure Perſon, die im Momente noch ſo liebend zu uns allen ſprach, ſchon in der nächſten Minute nichts mehr nach uns fragte und nichts mehr von uns wußte; — und wie ſie nun ſo ohne alle Theilnahme daliegt, uns nicht mehr tröſtet! O wie iſt das ſo ſeltſam, leben und ſterben! ich kann es noch ſo wenig begreifen. Wie kann man ſterben, wenn man einmal wirklich gelebt — und wie kann man wieder leben, wenn man einmal ſo ganz geſtorben iſt, daß man nichts mehr von allem weiß, was um uns geſchieht.‟ Ganz begreifen wirſt du das auch künftig nicht, meine Jda. Es gibt noch außerdem viele Dinge, die nicht zu begreifen ſtehen, und über die man dennoch ohne allen Zweifel tief in der Seele ge- wiß wird. „Aber wie iſt es denn damit, beſte Tante?‟ — „Begreifſt du vielleicht die Kraft des Lebens, die im ſpäten Herbſt aus der Natur

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Zitationshilfe: Rudolphi, Caroline Christiane Louise: Gemälde weiblicher Erziehung. Bd. 2. Heidelberg, 1807, S. 109. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rudolphi_erziehung02_1807/117>, abgerufen am 28.04.2024.