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Rudolphi, Caroline Christiane Louise: Gemälde weiblicher Erziehung. Bd. 2. Heidelberg, 1807.

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geben, das wär' ihr ein Spaß. Dazu kann es
nun hier unmöglich kommen, weil man sie kaum
noch bemerkt. Bruno will schon eine große Um-
wandelung an ihr finden; aber ich weiß es besser,
wie wenig geschehen ist. Es ist ein wahres Glück
für sie, daß ihr naseweises Gesichtchen jetzt noch
wenig Eindruck macht. Das wird aber noch kom-
men. Wenigstens versprechen oder drohen ihre
Augen einst eine große Herrschaft über die Män-
ner. Gebe ich sie jetzt zurück, und wächs't sie so
ohne weibliche Obhut auf, sich selbst und den Män-
nern überlassen, so ist es für mich entschieden,
was sie wird, und das scheint auch dem Bru-
der sehr deutlich vorzuschweben. Nehme ich sie
mit, und behalte sie bis zur vollendeten Ausbil-
dung bei uns, so muß ich zu sorglich über unsere
Kinder wachen, und diese ganz arglose unschuldige
Freiheit, in der sie das Paradies ihrer Kindheit bis
jetzt bewohnten, ist doch so köstlich. Was könnte
mich wohl bewegen, ihnen früh die Frucht vom
Baum des Erkenntnisses zu reichen: Werden ihnen
die Augen nicht immer noch zeitig genug aufge-
than? -- O wie ist mir alles frühzeitige Orienti-

geben, das wär’ ihr ein Spaß. Dazu kann es
nun hier unmöglich kommen, weil man ſie kaum
noch bemerkt. Bruno will ſchon eine große Um-
wandelung an ihr finden; aber ich weiß es beſſer,
wie wenig geſchehen iſt. Es iſt ein wahres Glück
für ſie, daß ihr naſeweiſes Geſichtchen jetzt noch
wenig Eindruck macht. Das wird aber noch kom-
men. Wenigſtens verſprechen oder drohen ihre
Augen einſt eine große Herrſchaft über die Män-
ner. Gebe ich ſie jetzt zurück, und wächſ’t ſie ſo
ohne weibliche Obhut auf, ſich ſelbſt und den Män-
nern überlaſſen, ſo iſt es für mich entſchieden,
was ſie wird, und das ſcheint auch dem Bru-
der ſehr deutlich vorzuſchweben. Nehme ich ſie
mit, und behalte ſie bis zur vollendeten Ausbil-
dung bei uns, ſo muß ich zu ſorglich über unſere
Kinder wachen, und dieſe ganz argloſe unſchuldige
Freiheit, in der ſie das Paradies ihrer Kindheit bis
jetzt bewohnten, iſt doch ſo köſtlich. Was könnte
mich wohl bewegen, ihnen früh die Frucht vom
Baum des Erkenntniſſes zu reichen: Werden ihnen
die Augen nicht immer noch zeitig genug aufge-
than? — O wie iſt mir alles frühzeitige Orienti-

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[126/0134] geben, das wär’ ihr ein Spaß. Dazu kann es nun hier unmöglich kommen, weil man ſie kaum noch bemerkt. Bruno will ſchon eine große Um- wandelung an ihr finden; aber ich weiß es beſſer, wie wenig geſchehen iſt. Es iſt ein wahres Glück für ſie, daß ihr naſeweiſes Geſichtchen jetzt noch wenig Eindruck macht. Das wird aber noch kom- men. Wenigſtens verſprechen oder drohen ihre Augen einſt eine große Herrſchaft über die Män- ner. Gebe ich ſie jetzt zurück, und wächſ’t ſie ſo ohne weibliche Obhut auf, ſich ſelbſt und den Män- nern überlaſſen, ſo iſt es für mich entſchieden, was ſie wird, und das ſcheint auch dem Bru- der ſehr deutlich vorzuſchweben. Nehme ich ſie mit, und behalte ſie bis zur vollendeten Ausbil- dung bei uns, ſo muß ich zu ſorglich über unſere Kinder wachen, und dieſe ganz argloſe unſchuldige Freiheit, in der ſie das Paradies ihrer Kindheit bis jetzt bewohnten, iſt doch ſo köſtlich. Was könnte mich wohl bewegen, ihnen früh die Frucht vom Baum des Erkenntniſſes zu reichen: Werden ihnen die Augen nicht immer noch zeitig genug aufge- than? — O wie iſt mir alles frühzeitige Orienti-

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Zitationshilfe: Rudolphi, Caroline Christiane Louise: Gemälde weiblicher Erziehung. Bd. 2. Heidelberg, 1807, S. 126. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rudolphi_erziehung02_1807/134>, abgerufen am 28.04.2024.