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Rudolphi, Caroline Christiane Louise: Gemälde weiblicher Erziehung. Bd. 2. Heidelberg, 1807.

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ihn mit ihrem freundlichsten Blick so fest, und ru-
hete nicht eher mit Liebäugeln, bis er aufsprang
und sie in seine Arme schloß. Nun das wußt' ich
ja wohl, rief sie lachend, daß die Löwen und Bä-
ren am Himmel Dein armes Schwesterchen auf
Erden nicht zerreißen würden. Sie fiel ihm herz-
lich um den Hals, und er ging bewegt hinaus.
Mit ihm wußte sie sich nun ausgesöhnt, aber mich
sahe sie furchtsam zweifelnd an, wie ich ihr die
Störung unsrer so allgemein geliebten Lehrstunde
nehmen, und ob ich ihr ernstlich zürnen würde?
Liebe Hertha, sagte ich ernst, Du hattest sehr un-
recht, Deinen Bruder auf diese Weise zu stören.
Wissen könntest Du es schon, daß den Männern
jede Wissenschaft, und alles was den Verstand
beschäftigt heiliger ist, als uns. Jeder Ausbruch
eines wachsamen Leichtsinnes bringt sie auf, und
deshalb haben die Männer so oft unser Geschlecht
für unfähig erklärt, sich wissenschaftliche Bildung
zu erwerben. Wolltest Du denn wohl, daß sie
hierin Recht behielten? Und wenn sie Recht zu ha-
ben glauben, wer ist Schuld daran, solche, die
zu allem was sie lernen wollen, einen ruhigen



ihn mit ihrem freundlichſten Blick ſo feſt, und ru-
hete nicht eher mit Liebäugeln, bis er aufſprang
und ſie in ſeine Arme ſchloß. Nun das wußt’ ich
ja wohl, rief ſie lachend, daß die Löwen und Bä-
ren am Himmel Dein armes Schweſterchen auf
Erden nicht zerreißen würden. Sie fiel ihm herz-
lich um den Hals, und er ging bewegt hinaus.
Mit ihm wußte ſie ſich nun ausgeſöhnt, aber mich
ſahe ſie furchtſam zweifelnd an, wie ich ihr die
Störung unſrer ſo allgemein geliebten Lehrſtunde
nehmen, und ob ich ihr ernſtlich zürnen würde?
Liebe Hertha, ſagte ich ernſt, Du hatteſt ſehr un-
recht, Deinen Bruder auf dieſe Weiſe zu ſtören.
Wiſſen könnteſt Du es ſchon, daß den Männern
jede Wiſſenſchaft, und alles was den Verſtand
beſchäftigt heiliger iſt, als uns. Jeder Ausbruch
eines wachſamen Leichtſinnes bringt ſie auf, und
deshalb haben die Männer ſo oft unſer Geſchlecht
für unfähig erklärt, ſich wiſſenſchaftliche Bildung
zu erwerben. Wollteſt Du denn wohl, daß ſie
hierin Recht behielten? Und wenn ſie Recht zu ha-
ben glauben, wer iſt Schuld daran, ſolche, die
zu allem was ſie lernen wollen, einen ruhigen

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[196/0204] ihn mit ihrem freundlichſten Blick ſo feſt, und ru- hete nicht eher mit Liebäugeln, bis er aufſprang und ſie in ſeine Arme ſchloß. Nun das wußt’ ich ja wohl, rief ſie lachend, daß die Löwen und Bä- ren am Himmel Dein armes Schweſterchen auf Erden nicht zerreißen würden. Sie fiel ihm herz- lich um den Hals, und er ging bewegt hinaus. Mit ihm wußte ſie ſich nun ausgeſöhnt, aber mich ſahe ſie furchtſam zweifelnd an, wie ich ihr die Störung unſrer ſo allgemein geliebten Lehrſtunde nehmen, und ob ich ihr ernſtlich zürnen würde? Liebe Hertha, ſagte ich ernſt, Du hatteſt ſehr un- recht, Deinen Bruder auf dieſe Weiſe zu ſtören. Wiſſen könnteſt Du es ſchon, daß den Männern jede Wiſſenſchaft, und alles was den Verſtand beſchäftigt heiliger iſt, als uns. Jeder Ausbruch eines wachſamen Leichtſinnes bringt ſie auf, und deshalb haben die Männer ſo oft unſer Geſchlecht für unfähig erklärt, ſich wiſſenſchaftliche Bildung zu erwerben. Wollteſt Du denn wohl, daß ſie hierin Recht behielten? Und wenn ſie Recht zu ha- ben glauben, wer iſt Schuld daran, ſolche, die zu allem was ſie lernen wollen, einen ruhigen

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Zitationshilfe: Rudolphi, Caroline Christiane Louise: Gemälde weiblicher Erziehung. Bd. 2. Heidelberg, 1807, S. 196. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rudolphi_erziehung02_1807/204>, abgerufen am 30.04.2024.