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Rudolphi, Caroline Christiane Louise: Gemälde weiblicher Erziehung. Bd. 2. Heidelberg, 1807.

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er studieren wollte, oder Betty unterrichten, und
ich unaufhörlich tobte mit den Kindern des Nach-
barn, die ich immer mit nach Haus brachte, weil
Betty mir zu verständig und zu fromm war.
O wenn jetzt der Vater mir ein so ernsthaftes Ge-
sicht machte, wie damals -- ich könnt' es nicht
aushalten! Seit ich bei dir war, beste Tante, seit
ich dich lieb habe, liebe ich Vater und Mutter
und Schwester noch einmal so sehr, und so ganz
anders wie sonst. Eben so wenig könnt' ich es
ertragen, daß Herr von Platov mit mir zürnte.

Der gute Pfarrer harrt schon mit Ungeduld
des Frühlings, der uns (wenigstens auf kurze
Zeit) alle wieder auf unserm Landsitz versammelt;
denn ehe Platov und Woldemar die neue Som-
merreise antreten, machen sie mit uns einen Früh-
lingsaufenthalt von einigen Wochen in Nauen-
burg. Aber bis dahin wird der Pfarrer noch oft
zu uns kommen. Die beiden Männer schließen
sich mit jedem Sehen fester an einander. Jedes
tiefere Eindringen in die Eigenthümlichkeit des
andern erhöhet die Achtung. Für Woldemar

er ſtudieren wollte, oder Betty unterrichten, und
ich unaufhörlich tobte mit den Kindern des Nach-
barn, die ich immer mit nach Haus brachte, weil
Betty mir zu verſtändig und zu fromm war.
O wenn jetzt der Vater mir ein ſo ernſthaftes Ge-
ſicht machte, wie damals — ich könnt’ es nicht
aushalten! Seit ich bei dir war, beſte Tante, ſeit
ich dich lieb habe, liebe ich Vater und Mutter
und Schweſter noch einmal ſo ſehr, und ſo ganz
anders wie ſonſt. Eben ſo wenig könnt’ ich es
ertragen, daß Herr von Platov mit mir zürnte.

Der gute Pfarrer harrt ſchon mit Ungeduld
des Frühlings, der uns (wenigſtens auf kurze
Zeit) alle wieder auf unſerm Landſitz verſammelt;
denn ehe Platov und Woldemar die neue Som-
merreiſe antreten, machen ſie mit uns einen Früh-
lingsaufenthalt von einigen Wochen in Nauen-
burg. Aber bis dahin wird der Pfarrer noch oft
zu uns kommen. Die beiden Männer ſchließen
ſich mit jedem Sehen feſter an einander. Jedes
tiefere Eindringen in die Eigenthümlichkeit des
andern erhöhet die Achtung. Für Woldemar

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[51/0059] er ſtudieren wollte, oder Betty unterrichten, und ich unaufhörlich tobte mit den Kindern des Nach- barn, die ich immer mit nach Haus brachte, weil Betty mir zu verſtändig und zu fromm war. O wenn jetzt der Vater mir ein ſo ernſthaftes Ge- ſicht machte, wie damals — ich könnt’ es nicht aushalten! Seit ich bei dir war, beſte Tante, ſeit ich dich lieb habe, liebe ich Vater und Mutter und Schweſter noch einmal ſo ſehr, und ſo ganz anders wie ſonſt. Eben ſo wenig könnt’ ich es ertragen, daß Herr von Platov mit mir zürnte. Der gute Pfarrer harrt ſchon mit Ungeduld des Frühlings, der uns (wenigſtens auf kurze Zeit) alle wieder auf unſerm Landſitz verſammelt; denn ehe Platov und Woldemar die neue Som- merreiſe antreten, machen ſie mit uns einen Früh- lingsaufenthalt von einigen Wochen in Nauen- burg. Aber bis dahin wird der Pfarrer noch oft zu uns kommen. Die beiden Männer ſchließen ſich mit jedem Sehen feſter an einander. Jedes tiefere Eindringen in die Eigenthümlichkeit des andern erhöhet die Achtung. Für Woldemar

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Zitationshilfe: Rudolphi, Caroline Christiane Louise: Gemälde weiblicher Erziehung. Bd. 2. Heidelberg, 1807, S. 51. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rudolphi_erziehung02_1807/59>, abgerufen am 27.04.2024.