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Scherer, Wilhelm: Poetik. Hrsg. v. Richard M. Meyer. Berlin, 1888.

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wir sie zunächst ganz allgemein so fassen: wie kommt das psc_096.002
Unangenehme dazu, Gegenstand der Poesie zu sein?

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Das Unangenehme -- ich analysire es nicht näher. Jch psc_096.004
erinnere nur: das Unangenehmste und Schmerzlichste nach psc_096.005
der gemeinen Ansicht des Menschen ist der Tod. Er ist psc_096.006
gleichsam der Gegenpol der Liebe. Tod und Liebesgenuß psc_096.007
sind für den Menschen die interessantesten Gegenstände: der psc_096.008
Liebesgenuß als Beglückendstes, Wünschenswerthestes, der psc_096.009
Tod als Unerwünschtestes, Hassenswerthestes; jener ersehnt, psc_096.010
dieser gefürchtet.

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Jch fasse meine Reflexionen hierüber in folgenden psc_096.012
Puncten zusammen:

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1) Aussprechen, Mittheilen, poetischer Ausdruck der psc_096.014
Freude fügt erfahrungsmäßig der freudigen Empfindung eine psc_096.015
Freude hinzu. Aussprechen, Mittheilen der Trauer zieht psc_096.016
von der Empfindung des Schmerzes ab: in dem Aussprechen psc_096.017
des Traurigen und Schmerzlichen liegt erfahrungsmäßig ein psc_096.018
Trost. Wenn wir uns vollends denken, daß dies Aussprechen psc_096.019
mit poetischem Ausdruck stattfindet, so kommt noch mehr psc_096.020
hinzu: der poetische Ausdruck ist erfahrungsmäßig mit angenehmen psc_096.021
Empfindungen associirt, woraus ein noch größerer psc_096.022
Trost erwächst. Besonders aber: das Dichten ist eine psc_096.023
Thätigkeit, die nach gewissen Regeln geschieht; das erfordert psc_096.024
eine gewisse geistige Concentration, Sammlung; wenn ich psc_096.025
die Kraft habe, im Schmerze mich zu dichterischem Ausdruck psc_096.026
aufzuraffen, so ist dabei so viel Anderes mit erregtem Sinn psc_096.027
zu erfassen und zu beachten, was nicht die Trauer selbst ist, psc_096.028
daß darin ein Abgezogenwerden, eine Tröstung, Zerstreuung

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wir sie zunächst ganz allgemein so fassen: wie kommt das psc_096.002
Unangenehme dazu, Gegenstand der Poesie zu sein?

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  Das Unangenehme — ich analysire es nicht näher. Jch psc_096.004
erinnere nur: das Unangenehmste und Schmerzlichste nach psc_096.005
der gemeinen Ansicht des Menschen ist der Tod. Er ist psc_096.006
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sind für den Menschen die interessantesten Gegenstände: der psc_096.008
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  Jch fasse meine Reflexionen hierüber in folgenden psc_096.012
Puncten zusammen:

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  1) Aussprechen, Mittheilen, poetischer Ausdruck der psc_096.014
Freude fügt erfahrungsmäßig der freudigen Empfindung eine psc_096.015
Freude hinzu. Aussprechen, Mittheilen der Trauer zieht psc_096.016
von der Empfindung des Schmerzes ab: in dem Aussprechen psc_096.017
des Traurigen und Schmerzlichen liegt erfahrungsmäßig ein psc_096.018
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hinzu: der poetische Ausdruck ist erfahrungsmäßig mit angenehmen psc_096.021
Empfindungen associirt, woraus ein noch größerer psc_096.022
Trost erwächst. Besonders aber: das Dichten ist eine psc_096.023
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Zitationshilfe: Scherer, Wilhelm: Poetik. Hrsg. v. Richard M. Meyer. Berlin, 1888, S. 96. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/scherer_poetik_1888/112>, abgerufen am 26.04.2024.