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Scherer, Wilhelm: Poetik. Hrsg. v. Richard M. Meyer. Berlin, 1888.

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der Poesie strebten, um mittelst derselben Macht auszuüben psc_119.002
auf die Gemüther, auf den Willen der Menschen.

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Die ganze sacrale, hieratische Poesie, die Opfergesänge psc_119.004
und Hymnen, die Gebete und Zaubersprüche, von Priestern psc_119.005
gelehrt und gleichsam verwaltet, dienen zugleich zur Vermehrung psc_119.006
der Macht ihrer Träger.

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Von unschätzbarem Werth ist die Poesie für diejenigen, psc_119.008
welche mittelst ihrer den Willen zu beherrschen wünschen. psc_119.009
Die Poesie schärft die Tugenden ein, welche den Machthabern psc_119.010
erwünscht sind -- so die von Priestern begünstigte Poesie.

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Nicht minder thut das die von Königen begünstigte psc_119.012
Poesie. Was schärft das germanische Epos ein? Was die psc_119.013
Volkskönige von ihren Unterthanen verlangen, erwarten: psc_119.014
Tapferkeit und Treue. Es singt den Ruhm der sangliebenden psc_119.015
Könige der Völkerwanderung; es preist den Mann, der sich psc_119.016
in edler Aufopferung für seinen Herrn hingiebt, der einen psc_119.017
ruhmvollen Tod höher achtet als ein schmachvolles Leben. psc_119.018
So schärft diese Poesie die Tugend ein, die jenen Königen psc_119.019
erwünscht war.

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Gewisse Richtungen der Poesie werden von denjenigen psc_119.021
begünstigt, die Vortheil davon haben. Die Priester wünschen psc_119.022
die Gottesfurcht verstärkt, weil sie ihrem eigenen Ansehen, psc_119.023
als der Vermittler zwischen Gott und Mensch, zu gute psc_119.024
kommt. Die geistlichen Dichter des 11. und 12. Jahrhunderts psc_119.025
stellen die christlichen Heiligen als Tugendmuster auf, die psc_119.026
Entsagenden, Demüthigen, Glaubenstreuen, Bescheidenen; sie psc_119.027
preisen den Segen der guten Werke; sie verdammen die weltlichen psc_119.028
Tugenden als Sünde.

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der Poesie strebten, um mittelst derselben Macht auszuüben psc_119.002
auf die Gemüther, auf den Willen der Menschen.

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  Die ganze sacrale, hieratische Poesie, die Opfergesänge psc_119.004
und Hymnen, die Gebete und Zaubersprüche, von Priestern psc_119.005
gelehrt und gleichsam verwaltet, dienen zugleich zur Vermehrung psc_119.006
der Macht ihrer Träger.

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  Von unschätzbarem Werth ist die Poesie für diejenigen, psc_119.008
welche mittelst ihrer den Willen zu beherrschen wünschen. psc_119.009
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erwünscht sind — so die von Priestern begünstigte Poesie.

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Poesie. Was schärft das germanische Epos ein? Was die psc_119.013
Volkskönige von ihren Unterthanen verlangen, erwarten: psc_119.014
Tapferkeit und Treue. Es singt den Ruhm der sangliebenden psc_119.015
Könige der Völkerwanderung; es preist den Mann, der sich psc_119.016
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So schärft diese Poesie die Tugend ein, die jenen Königen psc_119.019
erwünscht war.

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  Gewisse Richtungen der Poesie werden von denjenigen psc_119.021
begünstigt, die Vortheil davon haben. Die Priester wünschen psc_119.022
die Gottesfurcht verstärkt, weil sie ihrem eigenen Ansehen, psc_119.023
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[119/0135] psc_119.001 der Poesie strebten, um mittelst derselben Macht auszuüben psc_119.002 auf die Gemüther, auf den Willen der Menschen. psc_119.003   Die ganze sacrale, hieratische Poesie, die Opfergesänge psc_119.004 und Hymnen, die Gebete und Zaubersprüche, von Priestern psc_119.005 gelehrt und gleichsam verwaltet, dienen zugleich zur Vermehrung psc_119.006 der Macht ihrer Träger. psc_119.007   Von unschätzbarem Werth ist die Poesie für diejenigen, psc_119.008 welche mittelst ihrer den Willen zu beherrschen wünschen. psc_119.009 Die Poesie schärft die Tugenden ein, welche den Machthabern psc_119.010 erwünscht sind — so die von Priestern begünstigte Poesie. psc_119.011   Nicht minder thut das die von Königen begünstigte psc_119.012 Poesie. Was schärft das germanische Epos ein? Was die psc_119.013 Volkskönige von ihren Unterthanen verlangen, erwarten: psc_119.014 Tapferkeit und Treue. Es singt den Ruhm der sangliebenden psc_119.015 Könige der Völkerwanderung; es preist den Mann, der sich psc_119.016 in edler Aufopferung für seinen Herrn hingiebt, der einen psc_119.017 ruhmvollen Tod höher achtet als ein schmachvolles Leben. psc_119.018 So schärft diese Poesie die Tugend ein, die jenen Königen psc_119.019 erwünscht war. psc_119.020   Gewisse Richtungen der Poesie werden von denjenigen psc_119.021 begünstigt, die Vortheil davon haben. Die Priester wünschen psc_119.022 die Gottesfurcht verstärkt, weil sie ihrem eigenen Ansehen, psc_119.023 als der Vermittler zwischen Gott und Mensch, zu gute psc_119.024 kommt. Die geistlichen Dichter des 11. und 12. Jahrhunderts psc_119.025 stellen die christlichen Heiligen als Tugendmuster auf, die psc_119.026 Entsagenden, Demüthigen, Glaubenstreuen, Bescheidenen; sie psc_119.027 preisen den Segen der guten Werke; sie verdammen die weltlichen psc_119.028 Tugenden als Sünde.

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Zitationshilfe: Scherer, Wilhelm: Poetik. Hrsg. v. Richard M. Meyer. Berlin, 1888, S. 119. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/scherer_poetik_1888/135>, abgerufen am 26.04.2024.