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Tieck, Ludwig: Phantasus. Bd. 1. Berlin, 1812.

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Erste Abtheilung.
besessenen Nonnen als eine unterhaltende Aben-
theuerlichkeit: und doch wurde diese Abscheulich-
keit verübt, unsern Tagen ziemlich nahe, in den
Tagen der Philosophie (nicht etwa im sogenann-
ten barbarischen Mittel-Alter), die ehrwürdige
Form der Gerechtigkeit wurde gemißbraucht und
geschändet, die Religion verhöhnt, und alles dies,
worüber unser Eingeweide entbrennt und Rache
schreit, hatte weiter keine Folgen, als daß die
Pariser den Zermarterten gutmüthig bedauerten.
Soll ich euch aus den causes celebres diese un-
geheure Begebenheit vorlesen? Oder jene Trauer-
geschichte, welche erzählt, wie ein Familien-Va-
ter unschuldig auf die Galeeren gesandt wird
und dort stirbt, sein Weib und seine unmündige
Tochter aber lange im Kerker schmachten müssen,
weil ein Prozeß über einen bedeutenden Diebstahl
schlecht eingeleitet ward, und die Richter sich vom
Stande des Klägers verleiten ließen, übereilt zu
verfahren; der unschuldig Beklagte aber Vermö-
gen, Ehre und Leben auf das schmählichste ein-
büßte? Die Collekte die das junge Mädchen
nachher für ihre Mutter und sich erhielt und er-
bettelte, konnte ihnen den Vater nicht wieder
geben, noch den ungeheuren Jammer von ihrer
Seele nehmen. Nicht wahr, diese sind die äch-
ten Gespenstergeschichten? Und wer lebt denn
wohl, der nicht dergleichen zu erzählen wüßte,
von der Grausamkeit der Menschen, der Bestech-
lichkeit der Aemter, der Unterdrückung des Ar-

Erſte Abtheilung.
beſeſſenen Nonnen als eine unterhaltende Aben-
theuerlichkeit: und doch wurde dieſe Abſcheulich-
keit veruͤbt, unſern Tagen ziemlich nahe, in den
Tagen der Philoſophie (nicht etwa im ſogenann-
ten barbariſchen Mittel-Alter), die ehrwuͤrdige
Form der Gerechtigkeit wurde gemißbraucht und
geſchaͤndet, die Religion verhoͤhnt, und alles dies,
woruͤber unſer Eingeweide entbrennt und Rache
ſchreit, hatte weiter keine Folgen, als daß die
Pariſer den Zermarterten gutmuͤthig bedauerten.
Soll ich euch aus den causes celèbres dieſe un-
geheure Begebenheit vorleſen? Oder jene Trauer-
geſchichte, welche erzaͤhlt, wie ein Familien-Va-
ter unſchuldig auf die Galeeren geſandt wird
und dort ſtirbt, ſein Weib und ſeine unmuͤndige
Tochter aber lange im Kerker ſchmachten muͤſſen,
weil ein Prozeß uͤber einen bedeutenden Diebſtahl
ſchlecht eingeleitet ward, und die Richter ſich vom
Stande des Klaͤgers verleiten ließen, uͤbereilt zu
verfahren; der unſchuldig Beklagte aber Vermoͤ-
gen, Ehre und Leben auf das ſchmaͤhlichſte ein-
buͤßte? Die Collekte die das junge Maͤdchen
nachher fuͤr ihre Mutter und ſich erhielt und er-
bettelte, konnte ihnen den Vater nicht wieder
geben, noch den ungeheuren Jammer von ihrer
Seele nehmen. Nicht wahr, dieſe ſind die aͤch-
ten Geſpenſtergeſchichten? Und wer lebt denn
wohl, der nicht dergleichen zu erzaͤhlen wuͤßte,
von der Grauſamkeit der Menſchen, der Beſtech-
lichkeit der Aemter, der Unterdruͤckung des Ar-

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[318/0329] Erſte Abtheilung. beſeſſenen Nonnen als eine unterhaltende Aben- theuerlichkeit: und doch wurde dieſe Abſcheulich- keit veruͤbt, unſern Tagen ziemlich nahe, in den Tagen der Philoſophie (nicht etwa im ſogenann- ten barbariſchen Mittel-Alter), die ehrwuͤrdige Form der Gerechtigkeit wurde gemißbraucht und geſchaͤndet, die Religion verhoͤhnt, und alles dies, woruͤber unſer Eingeweide entbrennt und Rache ſchreit, hatte weiter keine Folgen, als daß die Pariſer den Zermarterten gutmuͤthig bedauerten. Soll ich euch aus den causes celèbres dieſe un- geheure Begebenheit vorleſen? Oder jene Trauer- geſchichte, welche erzaͤhlt, wie ein Familien-Va- ter unſchuldig auf die Galeeren geſandt wird und dort ſtirbt, ſein Weib und ſeine unmuͤndige Tochter aber lange im Kerker ſchmachten muͤſſen, weil ein Prozeß uͤber einen bedeutenden Diebſtahl ſchlecht eingeleitet ward, und die Richter ſich vom Stande des Klaͤgers verleiten ließen, uͤbereilt zu verfahren; der unſchuldig Beklagte aber Vermoͤ- gen, Ehre und Leben auf das ſchmaͤhlichſte ein- buͤßte? Die Collekte die das junge Maͤdchen nachher fuͤr ihre Mutter und ſich erhielt und er- bettelte, konnte ihnen den Vater nicht wieder geben, noch den ungeheuren Jammer von ihrer Seele nehmen. Nicht wahr, dieſe ſind die aͤch- ten Geſpenſtergeſchichten? Und wer lebt denn wohl, der nicht dergleichen zu erzaͤhlen wuͤßte, von der Grauſamkeit der Menſchen, der Beſtech- lichkeit der Aemter, der Unterdruͤckung des Ar-

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Zitationshilfe: Tieck, Ludwig: Phantasus. Bd. 1. Berlin, 1812, S. 318. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_phantasus01_1812/329>, abgerufen am 30.04.2024.