Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Varnhagen von Ense, Karl August: Denkwürdigkeiten und vermischte Schriften. Bd. 1. Mannheim, 1837.

Bild:
<< vorherige Seite

in den Beweisen, welche eine unvermeidliche Folge der
Behauptung sind, daß Raum und Zeit Gegenstände
für einen Begriff wären, und aus dem Begriff wieder
erkannt werden könnten; aber mit dieser Einsicht schwand
auch der dialektische Schein, welcher in Wolf's System
herrscht, welchem eine im Gehorsam des Glaubens
erzogene Vernunft, die diesen Gehorsam als Wahl der
Freiheit beschönigen will, nothwendig unterliegen muß.
Nun belebte mich der Geist von Kant's Kritik der
reinen Vernunft, der mich anfangs zu tödten schien,
nun fühlte ich mich erst als denkendes Wesen, unbe¬
schränkt durch alles, was die Menschen gut fanden,
einander glauben zu machen, und ungestört in meinem
der Vernunft nicht widersprechenden Glauben durch den
Vorwurf, daß ich ihn nicht schulgerecht beweisen konnte.
Ich fühlte ein neues Leben und Streben in mir, die
Gegenstände meines Wissens und Glaubens waren mir
bestimmt, und keine fruchtlose Anstrengung verzehrte
mehr meine Kräfte.

Kant's Prolegomena zu einer jeden künftigen Me¬
taphysik waren mir nur angenehme Wiederholung der
Lehren seiner Kritik, und ich las seine Grundlegung
der Metaphysik der Sitten mit dem Vergnügen, das
eine Unterhaltung mit einem vertrauten, aber an Weis¬
heit uns vorausgeschrittenen Freund giebt. Aller Genuß
aber, den ich in meinem Leben erhielt, schwindet gegen
die Durchbebung meines ganzen Gemüths, die ich an

in den Beweiſen, welche eine unvermeidliche Folge der
Behauptung ſind, daß Raum und Zeit Gegenſtaͤnde
fuͤr einen Begriff waͤren, und aus dem Begriff wieder
erkannt werden koͤnnten; aber mit dieſer Einſicht ſchwand
auch der dialektiſche Schein, welcher in Wolf’s Syſtem
herrſcht, welchem eine im Gehorſam des Glaubens
erzogene Vernunft, die dieſen Gehorſam als Wahl der
Freiheit beſchoͤnigen will, nothwendig unterliegen muß.
Nun belebte mich der Geiſt von Kant’s Kritik der
reinen Vernunft, der mich anfangs zu toͤdten ſchien,
nun fuͤhlte ich mich erſt als denkendes Weſen, unbe¬
ſchraͤnkt durch alles, was die Menſchen gut fanden,
einander glauben zu machen, und ungeſtoͤrt in meinem
der Vernunft nicht widerſprechenden Glauben durch den
Vorwurf, daß ich ihn nicht ſchulgerecht beweiſen konnte.
Ich fuͤhlte ein neues Leben und Streben in mir, die
Gegenſtaͤnde meines Wiſſens und Glaubens waren mir
beſtimmt, und keine fruchtloſe Anſtrengung verzehrte
mehr meine Kraͤfte.

Kant’s Prolegomena zu einer jeden kuͤnftigen Me¬
taphyſik waren mir nur angenehme Wiederholung der
Lehren ſeiner Kritik, und ich las ſeine Grundlegung
der Metaphyſik der Sitten mit dem Vergnuͤgen, das
eine Unterhaltung mit einem vertrauten, aber an Weis¬
heit uns vorausgeſchrittenen Freund giebt. Aller Genuß
aber, den ich in meinem Leben erhielt, ſchwindet gegen
die Durchbebung meines ganzen Gemuͤths, die ich an

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0253" n="239"/>
in den Bewei&#x017F;en, welche eine unvermeidliche Folge der<lb/>
Behauptung &#x017F;ind, daß Raum und Zeit Gegen&#x017F;ta&#x0364;nde<lb/>
fu&#x0364;r einen Begriff wa&#x0364;ren, und aus dem Begriff wieder<lb/>
erkannt werden ko&#x0364;nnten; aber mit die&#x017F;er Ein&#x017F;icht &#x017F;chwand<lb/>
auch der dialekti&#x017F;che Schein, welcher in Wolf&#x2019;s Sy&#x017F;tem<lb/>
herr&#x017F;cht, welchem eine im Gehor&#x017F;am des Glaubens<lb/>
erzogene Vernunft, die die&#x017F;en Gehor&#x017F;am als Wahl der<lb/>
Freiheit be&#x017F;cho&#x0364;nigen will, nothwendig unterliegen muß.<lb/>
Nun belebte mich der Gei&#x017F;t von Kant&#x2019;s Kritik der<lb/>
reinen Vernunft, der mich anfangs zu to&#x0364;dten &#x017F;chien,<lb/>
nun fu&#x0364;hlte ich mich er&#x017F;t als denkendes We&#x017F;en, unbe¬<lb/>
&#x017F;chra&#x0364;nkt durch alles, was die Men&#x017F;chen gut fanden,<lb/>
einander glauben zu machen, und unge&#x017F;to&#x0364;rt in meinem<lb/>
der Vernunft nicht wider&#x017F;prechenden Glauben durch den<lb/>
Vorwurf, daß ich ihn nicht &#x017F;chulgerecht bewei&#x017F;en konnte.<lb/>
Ich fu&#x0364;hlte ein neues Leben und Streben in mir, die<lb/>
Gegen&#x017F;ta&#x0364;nde meines Wi&#x017F;&#x017F;ens und Glaubens waren mir<lb/>
be&#x017F;timmt, und keine fruchtlo&#x017F;e An&#x017F;trengung verzehrte<lb/>
mehr meine Kra&#x0364;fte.</p><lb/>
            <p>Kant&#x2019;s Prolegomena zu einer jeden ku&#x0364;nftigen Me¬<lb/>
taphy&#x017F;ik waren mir nur angenehme Wiederholung der<lb/>
Lehren &#x017F;einer Kritik, und ich las &#x017F;eine Grundlegung<lb/>
der Metaphy&#x017F;ik der Sitten mit dem Vergnu&#x0364;gen, das<lb/>
eine Unterhaltung mit einem vertrauten, aber an Weis¬<lb/>
heit uns vorausge&#x017F;chrittenen Freund giebt. Aller Genuß<lb/>
aber, den ich in meinem Leben erhielt, &#x017F;chwindet gegen<lb/>
die Durchbebung meines ganzen Gemu&#x0364;ths, die ich an<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[239/0253] in den Beweiſen, welche eine unvermeidliche Folge der Behauptung ſind, daß Raum und Zeit Gegenſtaͤnde fuͤr einen Begriff waͤren, und aus dem Begriff wieder erkannt werden koͤnnten; aber mit dieſer Einſicht ſchwand auch der dialektiſche Schein, welcher in Wolf’s Syſtem herrſcht, welchem eine im Gehorſam des Glaubens erzogene Vernunft, die dieſen Gehorſam als Wahl der Freiheit beſchoͤnigen will, nothwendig unterliegen muß. Nun belebte mich der Geiſt von Kant’s Kritik der reinen Vernunft, der mich anfangs zu toͤdten ſchien, nun fuͤhlte ich mich erſt als denkendes Weſen, unbe¬ ſchraͤnkt durch alles, was die Menſchen gut fanden, einander glauben zu machen, und ungeſtoͤrt in meinem der Vernunft nicht widerſprechenden Glauben durch den Vorwurf, daß ich ihn nicht ſchulgerecht beweiſen konnte. Ich fuͤhlte ein neues Leben und Streben in mir, die Gegenſtaͤnde meines Wiſſens und Glaubens waren mir beſtimmt, und keine fruchtloſe Anſtrengung verzehrte mehr meine Kraͤfte. Kant’s Prolegomena zu einer jeden kuͤnftigen Me¬ taphyſik waren mir nur angenehme Wiederholung der Lehren ſeiner Kritik, und ich las ſeine Grundlegung der Metaphyſik der Sitten mit dem Vergnuͤgen, das eine Unterhaltung mit einem vertrauten, aber an Weis¬ heit uns vorausgeſchrittenen Freund giebt. Aller Genuß aber, den ich in meinem Leben erhielt, ſchwindet gegen die Durchbebung meines ganzen Gemuͤths, die ich an

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_denkwuerdigkeiten01_1837
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_denkwuerdigkeiten01_1837/253
Zitationshilfe: Varnhagen von Ense, Karl August: Denkwürdigkeiten und vermischte Schriften. Bd. 1. Mannheim, 1837, S. 239. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_denkwuerdigkeiten01_1837/253>, abgerufen am 14.05.2024.