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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,4. Stuttgart, 1857.

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Spiel, in welchem sich die empirischen Bedingtheiten, die Zufälligkeiten und
die härteren Züge, welche die Existenz mit sich führt, ergehen und festsetzen,
ohne daß darum die Idealität zerstört würde: so hängt mit dem indivi-
dualisirenden Style der naturalisirende zusammen. Die Lehre vom Styl-
gesetz im folg. Abschnitt hat mit der näheren Ausführung des Gesagten
auch zu untersuchen, welche Annäherungen an das für sich Unschöne der
härteren Naturwahrheit, der gemeineren Laune, der willkührlicheren Regung,
der häßlicheren Leidenschaft, der eingefleischten Gewöhnung in der Musik
möglich sind.

2. Diese ganze Frage führt unmittelbar zu der über das Komische,
denn je schärfer die Eigenheiten und die naturwahren Züge, desto mehr
gehen sie in das Häßliche über, von dem es sich nun fragt, ob und wie
weit es ästhetisch auflösbar sei. Der eine Weg dieser Auflösung ist der des
Erhabenen. Eine Kraft mag ungestalt sein und in ihren Wirkungen
Schönheit zerstören: wenn nur diese Wirkungen furchtbar sind, so gelangt
das Häßliche nicht zum Scheine selbständiger Fixirung, wie in dem entgegen-
gesetzten Prozesse des Komischen, wo das Endliche sein Recht zurückfordert
und in vollem Eigensinn sich selbst als das Ganze setzt. Auch ist das Er-
habene ebendarum, weil hier das Endliche vor einer Uebermacht, die irgend-
wie stets Trägerin der Idee ist, verschwindet, für Sinne und Verstand dunkel,
und so unterliegt es keinem Zweifel, daß die Musik, die ihrer ätherischen
Natur nach auch den entfernten Schein eines für sich fixirten Häßlichen
nicht dulden kann und die im Elemente des dunkeln Gefühls lebt, dieser
Grundform des Schönen im vollsten Sinne mächtig ist; ihre Mittel sind
unerschöpflich, eine Kraftfülle, die mehr oder minder zugleich sittliche Macht
ist und sich bis zu einem Ausdrucke steigern kann, als vernähmen wir die
Donner und den Posaunenschall des jüngsten Gerichts, in ihrer Herrlichkeit
und ihren Schrecken einherwogen und hervorbrechen zu lassen. Was nun
aber das Komische betrifft, so ist das Häßliche hier nothwendig einschneidender
und scheint sich mehr als solches zu fixiren; es macht sich breit als gälte es
positiv, weil hier das Endliche in all seiner Kleinheit und Laune sein Recht
zurückfordert, und der plötzliche Anprall, der lapsus in der nun eintretenden
Bewegung ist ebenfalls zunächst immer ein Mißton, ein schneidend Häßliches.
Dieser Umschlag besteht in einer plötzlichen Beleuchtung, der ein anscheinend
Erhabenes vernichtet, indem er es für die Sinne und den Verstand deutlich
macht; das Komische fordert also Anschauung und Reflexion, fällt hiemit
ganz in das Gebiet des hellen Bewußtseins. Die tiefere Bedeutung des
ganzen Acts aber haben wir in der Idee des stets bewegten Ineinander des
Endlichen und Unendlichen gefunden, welche schließlich zu dem Begriffe der
reinen Freiheit der Subjectivität führte, die sich als die Macht weiß, jedes
Erhabene als ein dem Subject Fremdes jederzeit zerstören zu dürfen, weil

Spiel, in welchem ſich die empiriſchen Bedingtheiten, die Zufälligkeiten und
die härteren Züge, welche die Exiſtenz mit ſich führt, ergehen und feſtſetzen,
ohne daß darum die Idealität zerſtört würde: ſo hängt mit dem indivi-
dualiſirenden Style der naturaliſirende zuſammen. Die Lehre vom Styl-
geſetz im folg. Abſchnitt hat mit der näheren Ausführung des Geſagten
auch zu unterſuchen, welche Annäherungen an das für ſich Unſchöne der
härteren Naturwahrheit, der gemeineren Laune, der willkührlicheren Regung,
der häßlicheren Leidenſchaft, der eingefleiſchten Gewöhnung in der Muſik
möglich ſind.

2. Dieſe ganze Frage führt unmittelbar zu der über das Komiſche,
denn je ſchärfer die Eigenheiten und die naturwahren Züge, deſto mehr
gehen ſie in das Häßliche über, von dem es ſich nun fragt, ob und wie
weit es äſthetiſch auflösbar ſei. Der eine Weg dieſer Auflöſung iſt der des
Erhabenen. Eine Kraft mag ungeſtalt ſein und in ihren Wirkungen
Schönheit zerſtören: wenn nur dieſe Wirkungen furchtbar ſind, ſo gelangt
das Häßliche nicht zum Scheine ſelbſtändiger Fixirung, wie in dem entgegen-
geſetzten Prozeſſe des Komiſchen, wo das Endliche ſein Recht zurückfordert
und in vollem Eigenſinn ſich ſelbſt als das Ganze ſetzt. Auch iſt das Er-
habene ebendarum, weil hier das Endliche vor einer Uebermacht, die irgend-
wie ſtets Trägerin der Idee iſt, verſchwindet, für Sinne und Verſtand dunkel,
und ſo unterliegt es keinem Zweifel, daß die Muſik, die ihrer ätheriſchen
Natur nach auch den entfernten Schein eines für ſich fixirten Häßlichen
nicht dulden kann und die im Elemente des dunkeln Gefühls lebt, dieſer
Grundform des Schönen im vollſten Sinne mächtig iſt; ihre Mittel ſind
unerſchöpflich, eine Kraftfülle, die mehr oder minder zugleich ſittliche Macht
iſt und ſich bis zu einem Ausdrucke ſteigern kann, als vernähmen wir die
Donner und den Poſaunenſchall des jüngſten Gerichts, in ihrer Herrlichkeit
und ihren Schrecken einherwogen und hervorbrechen zu laſſen. Was nun
aber das Komiſche betrifft, ſo iſt das Häßliche hier nothwendig einſchneidender
und ſcheint ſich mehr als ſolches zu fixiren; es macht ſich breit als gälte es
poſitiv, weil hier das Endliche in all ſeiner Kleinheit und Laune ſein Recht
zurückfordert, und der plötzliche Anprall, der lapsus in der nun eintretenden
Bewegung iſt ebenfalls zunächſt immer ein Mißton, ein ſchneidend Häßliches.
Dieſer Umſchlag beſteht in einer plötzlichen Beleuchtung, der ein anſcheinend
Erhabenes vernichtet, indem er es für die Sinne und den Verſtand deutlich
macht; das Komiſche fordert alſo Anſchauung und Reflexion, fällt hiemit
ganz in das Gebiet des hellen Bewußtſeins. Die tiefere Bedeutung des
ganzen Acts aber haben wir in der Idee des ſtets bewegten Ineinander des
Endlichen und Unendlichen gefunden, welche ſchließlich zu dem Begriffe der
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Erhabene als ein dem Subject Fremdes jederzeit zerſtören zu dürfen, weil

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[833/0071] Spiel, in welchem ſich die empiriſchen Bedingtheiten, die Zufälligkeiten und die härteren Züge, welche die Exiſtenz mit ſich führt, ergehen und feſtſetzen, ohne daß darum die Idealität zerſtört würde: ſo hängt mit dem indivi- dualiſirenden Style der naturaliſirende zuſammen. Die Lehre vom Styl- geſetz im folg. Abſchnitt hat mit der näheren Ausführung des Geſagten auch zu unterſuchen, welche Annäherungen an das für ſich Unſchöne der härteren Naturwahrheit, der gemeineren Laune, der willkührlicheren Regung, der häßlicheren Leidenſchaft, der eingefleiſchten Gewöhnung in der Muſik möglich ſind. 2. Dieſe ganze Frage führt unmittelbar zu der über das Komiſche, denn je ſchärfer die Eigenheiten und die naturwahren Züge, deſto mehr gehen ſie in das Häßliche über, von dem es ſich nun fragt, ob und wie weit es äſthetiſch auflösbar ſei. Der eine Weg dieſer Auflöſung iſt der des Erhabenen. Eine Kraft mag ungeſtalt ſein und in ihren Wirkungen Schönheit zerſtören: wenn nur dieſe Wirkungen furchtbar ſind, ſo gelangt das Häßliche nicht zum Scheine ſelbſtändiger Fixirung, wie in dem entgegen- geſetzten Prozeſſe des Komiſchen, wo das Endliche ſein Recht zurückfordert und in vollem Eigenſinn ſich ſelbſt als das Ganze ſetzt. Auch iſt das Er- habene ebendarum, weil hier das Endliche vor einer Uebermacht, die irgend- wie ſtets Trägerin der Idee iſt, verſchwindet, für Sinne und Verſtand dunkel, und ſo unterliegt es keinem Zweifel, daß die Muſik, die ihrer ätheriſchen Natur nach auch den entfernten Schein eines für ſich fixirten Häßlichen nicht dulden kann und die im Elemente des dunkeln Gefühls lebt, dieſer Grundform des Schönen im vollſten Sinne mächtig iſt; ihre Mittel ſind unerſchöpflich, eine Kraftfülle, die mehr oder minder zugleich ſittliche Macht iſt und ſich bis zu einem Ausdrucke ſteigern kann, als vernähmen wir die Donner und den Poſaunenſchall des jüngſten Gerichts, in ihrer Herrlichkeit und ihren Schrecken einherwogen und hervorbrechen zu laſſen. Was nun aber das Komiſche betrifft, ſo iſt das Häßliche hier nothwendig einſchneidender und ſcheint ſich mehr als ſolches zu fixiren; es macht ſich breit als gälte es poſitiv, weil hier das Endliche in all ſeiner Kleinheit und Laune ſein Recht zurückfordert, und der plötzliche Anprall, der lapsus in der nun eintretenden Bewegung iſt ebenfalls zunächſt immer ein Mißton, ein ſchneidend Häßliches. Dieſer Umſchlag beſteht in einer plötzlichen Beleuchtung, der ein anſcheinend Erhabenes vernichtet, indem er es für die Sinne und den Verſtand deutlich macht; das Komiſche fordert alſo Anſchauung und Reflexion, fällt hiemit ganz in das Gebiet des hellen Bewußtſeins. Die tiefere Bedeutung des ganzen Acts aber haben wir in der Idee des ſtets bewegten Ineinander des Endlichen und Unendlichen gefunden, welche ſchließlich zu dem Begriffe der reinen Freiheit der Subjectivität führte, die ſich als die Macht weiß, jedes Erhabene als ein dem Subject Fremdes jederzeit zerſtören zu dürfen, weil

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,4. Stuttgart, 1857, S. 833. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030204_1857/71>, abgerufen am 27.04.2024.