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Wild, Hermine [d. i. Adele Wesemael]: Eure Wege sind nicht meine Wege. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 22. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 1–210. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.

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seiner rücksichtslosen brüderlichen Umarmung erhob. Du bist fast noch ärger, als mein Herr Gemahl!

Kaum angekommen, hatte er sich mit Gewalt von Allen losgemacht, die sich nicht satt an ihm sehen konnten, und war zu seiner Schwester geeilt, sich an ihrem Anblick zu erfreuen. Sie setzte ihn in einen Stuhl und strich ihm mehrmals mit der einen Hand über die schon gebräunte Stirn, und wirklich, ihr Anblick mußte eine Freude für ihn sein. Sie war heute ganz in Rosa, trotz ihres röthlichen Haares; aber sie liebte den Wechsel, und im Grunde stand ihr Alles gut. Sie sah allerliebst aus, wie sie so in scherzender Heiterkeit vor ihm stand.

Du bist hübscher geworden, sagte sie, den reizenden Kopf in verführerisch unschuldiger Altklugheit wiegend. Man kann dich jetzt ohne Beschämung als Bruder aufführen. Er lachte und wollte sie auf seinen Schooß ziehen. Aber leicht wie eine Feder wich sie ihm ans. Solche Vertraulichkeiten schicken sich nicht mehr für mich, sagte sie, ihm mit dem Fächer auf die Finger klopfend, ich bin jetzt eine verheirathete Frau.

Ei, du zierliche Katz! antwortete er lachend.

Warte, ich werde dir zeigen, daß ich auch kratzen kann! rief sie, hoch erröthend.

Du bist ja gar nicht mehr so schläfrig, sagte er, über ihre Lebendigkeit erstaunt.

Ja, die Ehe hat sie etwas aufgeweckt, meinte der Graf, aber doch gehört sie noch immer zu den Stillen.

Otto richtete sich mit scheinbarem Entsetzen in seinem Stuhle auf. Dann behüte Sie Gott, Herr Bruder! rief er pathetisch, das Sprichwort ist zu grauenhaft.

Leonie stampfte den weichen Teppich mit dem kleinen Füße, wandte den Rücken und ging zornig hinaus.

Was hat sie? frug Otto überrascht.

Kinderei! sagte der Graf. Sie ist wirklich wie

seiner rücksichtslosen brüderlichen Umarmung erhob. Du bist fast noch ärger, als mein Herr Gemahl!

Kaum angekommen, hatte er sich mit Gewalt von Allen losgemacht, die sich nicht satt an ihm sehen konnten, und war zu seiner Schwester geeilt, sich an ihrem Anblick zu erfreuen. Sie setzte ihn in einen Stuhl und strich ihm mehrmals mit der einen Hand über die schon gebräunte Stirn, und wirklich, ihr Anblick mußte eine Freude für ihn sein. Sie war heute ganz in Rosa, trotz ihres röthlichen Haares; aber sie liebte den Wechsel, und im Grunde stand ihr Alles gut. Sie sah allerliebst aus, wie sie so in scherzender Heiterkeit vor ihm stand.

Du bist hübscher geworden, sagte sie, den reizenden Kopf in verführerisch unschuldiger Altklugheit wiegend. Man kann dich jetzt ohne Beschämung als Bruder aufführen. Er lachte und wollte sie auf seinen Schooß ziehen. Aber leicht wie eine Feder wich sie ihm ans. Solche Vertraulichkeiten schicken sich nicht mehr für mich, sagte sie, ihm mit dem Fächer auf die Finger klopfend, ich bin jetzt eine verheirathete Frau.

Ei, du zierliche Katz! antwortete er lachend.

Warte, ich werde dir zeigen, daß ich auch kratzen kann! rief sie, hoch erröthend.

Du bist ja gar nicht mehr so schläfrig, sagte er, über ihre Lebendigkeit erstaunt.

Ja, die Ehe hat sie etwas aufgeweckt, meinte der Graf, aber doch gehört sie noch immer zu den Stillen.

Otto richtete sich mit scheinbarem Entsetzen in seinem Stuhle auf. Dann behüte Sie Gott, Herr Bruder! rief er pathetisch, das Sprichwort ist zu grauenhaft.

Leonie stampfte den weichen Teppich mit dem kleinen Füße, wandte den Rücken und ging zornig hinaus.

Was hat sie? frug Otto überrascht.

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[0111] seiner rücksichtslosen brüderlichen Umarmung erhob. Du bist fast noch ärger, als mein Herr Gemahl! Kaum angekommen, hatte er sich mit Gewalt von Allen losgemacht, die sich nicht satt an ihm sehen konnten, und war zu seiner Schwester geeilt, sich an ihrem Anblick zu erfreuen. Sie setzte ihn in einen Stuhl und strich ihm mehrmals mit der einen Hand über die schon gebräunte Stirn, und wirklich, ihr Anblick mußte eine Freude für ihn sein. Sie war heute ganz in Rosa, trotz ihres röthlichen Haares; aber sie liebte den Wechsel, und im Grunde stand ihr Alles gut. Sie sah allerliebst aus, wie sie so in scherzender Heiterkeit vor ihm stand. Du bist hübscher geworden, sagte sie, den reizenden Kopf in verführerisch unschuldiger Altklugheit wiegend. Man kann dich jetzt ohne Beschämung als Bruder aufführen. Er lachte und wollte sie auf seinen Schooß ziehen. Aber leicht wie eine Feder wich sie ihm ans. Solche Vertraulichkeiten schicken sich nicht mehr für mich, sagte sie, ihm mit dem Fächer auf die Finger klopfend, ich bin jetzt eine verheirathete Frau. Ei, du zierliche Katz! antwortete er lachend. Warte, ich werde dir zeigen, daß ich auch kratzen kann! rief sie, hoch erröthend. Du bist ja gar nicht mehr so schläfrig, sagte er, über ihre Lebendigkeit erstaunt. Ja, die Ehe hat sie etwas aufgeweckt, meinte der Graf, aber doch gehört sie noch immer zu den Stillen. Otto richtete sich mit scheinbarem Entsetzen in seinem Stuhle auf. Dann behüte Sie Gott, Herr Bruder! rief er pathetisch, das Sprichwort ist zu grauenhaft. Leonie stampfte den weichen Teppich mit dem kleinen Füße, wandte den Rücken und ging zornig hinaus. Was hat sie? frug Otto überrascht. Kinderei! sagte der Graf. Sie ist wirklich wie

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Zitationshilfe: Wild, Hermine [d. i. Adele Wesemael]: Eure Wege sind nicht meine Wege. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 22. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 1–210. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wild_wege_1910/111>, abgerufen am 29.04.2024.