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Wolff, Eugen: Poetik: Die Gesetze der Poesie in ihrer geschichtlichen Entwicklung. Ein Grundriß. Oldenburg u. a., 1899.

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der sich mit manegen tugenden guot pwo_149.002
gemachet al der werlte liep, der mac wol hohe tragen den muot. pwo_149.003
Sine mugen alle mir benemen den ich mir lange han erwelt ..."
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Fehlt es auch nicht an vereinzelten Nachklängen dieser Auffassung der pwo_149.005
ältesten Minnesänger, so ist doch mit Beginn der eigentlich höfischen pwo_149.006
Blütezeit im Minnesang die entgegengesetzte Darstellung der Beziehungen pwo_149.007
zwischen Mann und Weib zur entschiedenen Herrschaft gelangt. pwo_149.008
Der Ritter ist der um Liebe girrende Teil geworden, die Frau spielt pwo_149.009
die Spröde; wie der Name sagt, ist sie die Herrin, der Liebhaber pwo_149.010
erniedrigt sich zu ihrem Vasallen, und er krankt an ungestillter Liebessehnsucht, pwo_149.011
ist überhaupt von Liebesweh gebrochen.

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Nun begegnen wir der auffallenden Erscheinung, daß diese, das pwo_149.013
natürliche Verhältnis der Geschlechter umkehrende Auffassung in der pwo_149.014
von volkstümlichen Einflüssen unberührten Kunstlyrik dauernd die Herrschaft pwo_149.015
behauptet, während das in späteren Jahrhunderten aufgezeichnete pwo_149.016
Volkslied die gesund-natürliche und thatsächlich im unverdorbenen Volke pwo_149.017
herrschende Anschauung bewahrt, wonach ein Weibernarr, ein Sklave pwo_149.018
weiblicher Launen dem Spott verfällt, und die Frau es ist, die zum pwo_149.019
Manne aufblickt, an ihn sich anlehnt. Der immer wieder anklingenden pwo_149.020
Sehnsucht des Mädchens nach einem Manne steht im Volkslied pwo_149.021
verhältnismäßig selten die schwärmerische Werbung des Mannes gegenüber. pwo_149.022
Vielmehr sind Treulosigkeit des Mannes einerseits, Verspottung pwo_149.023
des Weibes andererseits wohl die beliebtesten Gegenstände des pwo_149.024
deutschen Volksliedes um die Wende des Mittelalters und der Neuzeit. pwo_149.025
Selbst über Verrat tröstet sich der kecke Gesell:

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"Laß fahren, laß fahren, was nit bleiben will. pwo_149.027
Man findt der schön Jungfräulein noch viel."
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Was der Bursch sucht, ist meist nur flüchtiger Genuß; das Mädchen pwo_149.029
bleibt trauernd und sehnend verlassen zurück. Namentlich kommen pwo_149.030
hier auch die Liebeslieder in betracht, die Nonnen in den Mund gelegt pwo_149.031
sind:

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"Viel lieber möcht' ich einen Knaben pwo_149.033
Als eine graue Kappen haben."
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Typisch kehrt überhaupt der Wunsch des Mädchens wieder, trotz Warnung pwo_149.035
der Mutter zu heiraten, zunächst die Liebe eines muntern Gesellen pwo_149.036
zu erwerben; und doch gewinnt sie meist nur Schande und Not.

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[149/0163] pwo_149.001 der sich mit manegen tugenden guot pwo_149.002 gemachet al der werlte liep, der mac wol hôhe tragen den muot. pwo_149.003   Sine mugen alle mir benemen den ich mir lange hân erwelt ...“ pwo_149.004 Fehlt es auch nicht an vereinzelten Nachklängen dieser Auffassung der pwo_149.005 ältesten Minnesänger, so ist doch mit Beginn der eigentlich höfischen pwo_149.006 Blütezeit im Minnesang die entgegengesetzte Darstellung der Beziehungen pwo_149.007 zwischen Mann und Weib zur entschiedenen Herrschaft gelangt. pwo_149.008 Der Ritter ist der um Liebe girrende Teil geworden, die Frau spielt pwo_149.009 die Spröde; wie der Name sagt, ist sie die Herrin, der Liebhaber pwo_149.010 erniedrigt sich zu ihrem Vasallen, und er krankt an ungestillter Liebessehnsucht, pwo_149.011 ist überhaupt von Liebesweh gebrochen. pwo_149.012   Nun begegnen wir der auffallenden Erscheinung, daß diese, das pwo_149.013 natürliche Verhältnis der Geschlechter umkehrende Auffassung in der pwo_149.014 von volkstümlichen Einflüssen unberührten Kunstlyrik dauernd die Herrschaft pwo_149.015 behauptet, während das in späteren Jahrhunderten aufgezeichnete pwo_149.016 Volkslied die gesund-natürliche und thatsächlich im unverdorbenen Volke pwo_149.017 herrschende Anschauung bewahrt, wonach ein Weibernarr, ein Sklave pwo_149.018 weiblicher Launen dem Spott verfällt, und die Frau es ist, die zum pwo_149.019 Manne aufblickt, an ihn sich anlehnt. Der immer wieder anklingenden pwo_149.020 Sehnsucht des Mädchens nach einem Manne steht im Volkslied pwo_149.021 verhältnismäßig selten die schwärmerische Werbung des Mannes gegenüber. pwo_149.022 Vielmehr sind Treulosigkeit des Mannes einerseits, Verspottung pwo_149.023 des Weibes andererseits wohl die beliebtesten Gegenstände des pwo_149.024 deutschen Volksliedes um die Wende des Mittelalters und der Neuzeit. pwo_149.025 Selbst über Verrat tröstet sich der kecke Gesell: pwo_149.026 „Laß fahren, laß fahren, was nit bleiben will. pwo_149.027 Man findt der schön Jungfräulein noch viel.“ pwo_149.028 Was der Bursch sucht, ist meist nur flüchtiger Genuß; das Mädchen pwo_149.029 bleibt trauernd und sehnend verlassen zurück. Namentlich kommen pwo_149.030 hier auch die Liebeslieder in betracht, die Nonnen in den Mund gelegt pwo_149.031 sind: pwo_149.032 „Viel lieber möcht' ich einen Knaben pwo_149.033 Als eine graue Kappen haben.“ pwo_149.034 Typisch kehrt überhaupt der Wunsch des Mädchens wieder, trotz Warnung pwo_149.035 der Mutter zu heiraten, zunächst die Liebe eines muntern Gesellen pwo_149.036 zu erwerben; und doch gewinnt sie meist nur Schande und Not.

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Zitationshilfe: Wolff, Eugen: Poetik: Die Gesetze der Poesie in ihrer geschichtlichen Entwicklung. Ein Grundriß. Oldenburg u. a., 1899, S. 149. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wolff_poetik_1899/163>, abgerufen am 29.04.2024.