Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Wolff, Eugen: Poetik: Die Gesetze der Poesie in ihrer geschichtlichen Entwicklung. Ein Grundriß. Oldenburg u. a., 1899.

Bild:
<< vorherige Seite

pwo_170.001
des 46. Psalms folgerecht durch und giebt dadurch dem pwo_170.002
Gedicht den vollen Charakter eines dröhnenden, teils direkt waffenklirrenden pwo_170.003
Kampfliedes.

pwo_170.004

Großartige Gestaltungsgabe offenbart auch das katholische geistliche pwo_170.005
Lied des 17. Jahrhunderts, die Lyrik der Spee und Scheffler. pwo_170.006
Aber es ist nicht mehr unbedingt religiöser Volksgesang, Empfindungen pwo_170.007
des Einzelnen brechen durch. Das gilt auch bis zu einem gewissen pwo_170.008
Grade von dem protestantischen Sänger Paul Gerhardt. - pwo_170.009
Sehr lehrreich ist, die weitere Entwicklung bis Gellert zu verfolgen: pwo_170.010
der Verstand greift oft reflektierend in das Reich des Gefühls ein, pwo_170.011
statt auf Anschaulichkeit ist weithin auf abstrakte Moral hingearbeitet, pwo_170.012
die melodiöse Gewalt ist meist durch äußerlich rhetorische Lebhaftigkeit pwo_170.013
ersetzt.

pwo_170.014
"Wie groß ist des Allmächt'gen Güte! pwo_170.015
Jst der ein Mensch, den sie nicht rührt? pwo_170.016
Der mit verhärtetem Gemüte pwo_170.017
Den Dank erstickt, der ihm gebührt?"
pwo_170.018

Das wäre nachgedacht, reflektiert.

pwo_170.019
"Nein, seine Liebe zu ermessen, pwo_170.020
Sei ewig meine größte Pflicht. pwo_170.021
Der Herr hat mein noch nie vergessen; pwo_170.022
Vergiß, mein Herz, auch seiner nicht."
pwo_170.023

Verstand und Moral kommen hier zu Worte, kein Gefühl, am wenigsten pwo_170.024
ein konkret sich bethätigendes Gefühl. -

pwo_170.025

Das weltliche Lied zeigt anfangs den Kampf volkstümlicher pwo_170.026
und fremder Elemente einerseits, volkstümlicher und individueller Elemente pwo_170.027
andererseits. Die fremden, modernen wie antiken Einflüsse pwo_170.028
siegen nur vorübergehend, auf die Dauer gründet sich aber die Herrschaft pwo_170.029
der Jndividualität. Formelle Dramatik - durch dialogische und pwo_170.030
scenische Elemente - lebt von je im Wesen des sangbaren Liedes: pwo_170.031
erst die neuere Epoche zeitigt aber die dramatische Psychologie, pwo_170.032
die Zerlegung der Volksseele in verschieden empfindende Jndividuen. pwo_170.033
So gewinnt auch die Lyrik eine ausgeprägt individuelle Färbung.

pwo_170.034

Meisterhaft bildet diesen Stil Goethe aus. Er wagt es mit pwo_170.035
Bewußtsein, seine eigensten Leiden und Freuden zu künden. Auch pwo_170.036
wo bei den besten Minnesängern eigene Erlebnisse die konventionellen

pwo_170.001
des 46. Psalms folgerecht durch und giebt dadurch dem pwo_170.002
Gedicht den vollen Charakter eines dröhnenden, teils direkt waffenklirrenden pwo_170.003
Kampfliedes.

pwo_170.004

  Großartige Gestaltungsgabe offenbart auch das katholische geistliche pwo_170.005
Lied des 17. Jahrhunderts, die Lyrik der Spee und Scheffler. pwo_170.006
Aber es ist nicht mehr unbedingt religiöser Volksgesang, Empfindungen pwo_170.007
des Einzelnen brechen durch. Das gilt auch bis zu einem gewissen pwo_170.008
Grade von dem protestantischen Sänger Paul Gerhardt. – pwo_170.009
Sehr lehrreich ist, die weitere Entwicklung bis Gellert zu verfolgen: pwo_170.010
der Verstand greift oft reflektierend in das Reich des Gefühls ein, pwo_170.011
statt auf Anschaulichkeit ist weithin auf abstrakte Moral hingearbeitet, pwo_170.012
die melodiöse Gewalt ist meist durch äußerlich rhetorische Lebhaftigkeit pwo_170.013
ersetzt.

pwo_170.014
„Wie groß ist des Allmächt'gen Güte! pwo_170.015
Jst der ein Mensch, den sie nicht rührt? pwo_170.016
Der mit verhärtetem Gemüte pwo_170.017
Den Dank erstickt, der ihm gebührt?“
pwo_170.018

Das wäre nachgedacht, reflektiert.

pwo_170.019
„Nein, seine Liebe zu ermessen, pwo_170.020
Sei ewig meine größte Pflicht. pwo_170.021
Der Herr hat mein noch nie vergessen; pwo_170.022
Vergiß, mein Herz, auch seiner nicht.“
pwo_170.023

Verstand und Moral kommen hier zu Worte, kein Gefühl, am wenigsten pwo_170.024
ein konkret sich bethätigendes Gefühl. –

pwo_170.025

  Das weltliche Lied zeigt anfangs den Kampf volkstümlicher pwo_170.026
und fremder Elemente einerseits, volkstümlicher und individueller Elemente pwo_170.027
andererseits. Die fremden, modernen wie antiken Einflüsse pwo_170.028
siegen nur vorübergehend, auf die Dauer gründet sich aber die Herrschaft pwo_170.029
der Jndividualität. Formelle Dramatik – durch dialogische und pwo_170.030
scenische Elemente – lebt von je im Wesen des sangbaren Liedes: pwo_170.031
erst die neuere Epoche zeitigt aber die dramatische Psychologie, pwo_170.032
die Zerlegung der Volksseele in verschieden empfindende Jndividuen. pwo_170.033
So gewinnt auch die Lyrik eine ausgeprägt individuelle Färbung.

pwo_170.034

  Meisterhaft bildet diesen Stil Goethe aus. Er wagt es mit pwo_170.035
Bewußtsein, seine eigensten Leiden und Freuden zu künden. Auch pwo_170.036
wo bei den besten Minnesängern eigene Erlebnisse die konventionellen

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0184" n="170"/><lb n="pwo_170.001"/>
des 46. Psalms folgerecht durch und giebt dadurch dem <lb n="pwo_170.002"/>
Gedicht den vollen Charakter eines dröhnenden, teils direkt waffenklirrenden <lb n="pwo_170.003"/>
Kampfliedes.</p>
            <lb n="pwo_170.004"/>
            <p>  Großartige Gestaltungsgabe offenbart auch das katholische geistliche <lb n="pwo_170.005"/>
Lied des 17. Jahrhunderts, die Lyrik der Spee und Scheffler. <lb n="pwo_170.006"/>
Aber es ist nicht mehr unbedingt religiöser Volksgesang, Empfindungen <lb n="pwo_170.007"/>
des Einzelnen brechen durch. Das gilt auch bis zu einem gewissen <lb n="pwo_170.008"/>
Grade von dem protestantischen Sänger Paul Gerhardt. &#x2013; <lb n="pwo_170.009"/>
Sehr lehrreich ist, die weitere Entwicklung bis Gellert zu verfolgen: <lb n="pwo_170.010"/>
der Verstand greift oft reflektierend in das Reich des Gefühls ein, <lb n="pwo_170.011"/>
statt auf Anschaulichkeit ist weithin auf abstrakte Moral hingearbeitet, <lb n="pwo_170.012"/>
die melodiöse Gewalt ist meist durch äußerlich rhetorische Lebhaftigkeit <lb n="pwo_170.013"/>
ersetzt.</p>
            <lb n="pwo_170.014"/>
            <lg>
              <l>&#x201E;Wie groß ist des Allmächt'gen Güte!</l>
              <lb n="pwo_170.015"/>
              <l>Jst der ein Mensch, den sie nicht rührt?</l>
              <lb n="pwo_170.016"/>
              <l>Der mit verhärtetem Gemüte</l>
              <lb n="pwo_170.017"/>
              <l>Den Dank erstickt, der ihm gebührt?&#x201C;</l>
            </lg>
            <lb n="pwo_170.018"/>
            <p>Das wäre nachgedacht, reflektiert.</p>
            <lb n="pwo_170.019"/>
            <lg>
              <l>&#x201E;Nein, seine Liebe zu ermessen,</l>
              <lb n="pwo_170.020"/>
              <l>Sei ewig meine größte Pflicht.</l>
              <lb n="pwo_170.021"/>
              <l>Der Herr hat mein noch nie vergessen;</l>
              <lb n="pwo_170.022"/>
              <l>Vergiß, mein Herz, auch seiner nicht.&#x201C;</l>
            </lg>
            <lb n="pwo_170.023"/>
            <p>Verstand und Moral kommen hier zu Worte, kein Gefühl, am wenigsten <lb n="pwo_170.024"/>
ein konkret sich bethätigendes Gefühl. &#x2013;</p>
            <lb n="pwo_170.025"/>
            <p>  Das <hi rendition="#g">weltliche</hi> Lied zeigt anfangs den Kampf volkstümlicher <lb n="pwo_170.026"/>
und fremder Elemente einerseits, volkstümlicher und individueller Elemente <lb n="pwo_170.027"/>
andererseits. Die fremden, modernen wie antiken Einflüsse <lb n="pwo_170.028"/>
siegen nur vorübergehend, auf die Dauer gründet sich aber die Herrschaft <lb n="pwo_170.029"/>
der Jndividualität. Formelle Dramatik &#x2013; durch dialogische und <lb n="pwo_170.030"/>
scenische Elemente &#x2013; lebt von je im Wesen des sangbaren Liedes: <lb n="pwo_170.031"/>
erst die neuere Epoche zeitigt aber die <hi rendition="#g">dramatische Psychologie,</hi> <lb n="pwo_170.032"/>
die Zerlegung der Volksseele in verschieden empfindende Jndividuen. <lb n="pwo_170.033"/>
So gewinnt auch die Lyrik eine ausgeprägt individuelle Färbung.</p>
            <lb n="pwo_170.034"/>
            <p>  Meisterhaft bildet diesen Stil <hi rendition="#g">Goethe</hi> aus. Er wagt es mit <lb n="pwo_170.035"/>
Bewußtsein, seine eigensten Leiden und Freuden zu künden. Auch <lb n="pwo_170.036"/>
wo bei den besten Minnesängern eigene Erlebnisse die konventionellen
</p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[170/0184] pwo_170.001 des 46. Psalms folgerecht durch und giebt dadurch dem pwo_170.002 Gedicht den vollen Charakter eines dröhnenden, teils direkt waffenklirrenden pwo_170.003 Kampfliedes. pwo_170.004   Großartige Gestaltungsgabe offenbart auch das katholische geistliche pwo_170.005 Lied des 17. Jahrhunderts, die Lyrik der Spee und Scheffler. pwo_170.006 Aber es ist nicht mehr unbedingt religiöser Volksgesang, Empfindungen pwo_170.007 des Einzelnen brechen durch. Das gilt auch bis zu einem gewissen pwo_170.008 Grade von dem protestantischen Sänger Paul Gerhardt. – pwo_170.009 Sehr lehrreich ist, die weitere Entwicklung bis Gellert zu verfolgen: pwo_170.010 der Verstand greift oft reflektierend in das Reich des Gefühls ein, pwo_170.011 statt auf Anschaulichkeit ist weithin auf abstrakte Moral hingearbeitet, pwo_170.012 die melodiöse Gewalt ist meist durch äußerlich rhetorische Lebhaftigkeit pwo_170.013 ersetzt. pwo_170.014 „Wie groß ist des Allmächt'gen Güte! pwo_170.015 Jst der ein Mensch, den sie nicht rührt? pwo_170.016 Der mit verhärtetem Gemüte pwo_170.017 Den Dank erstickt, der ihm gebührt?“ pwo_170.018 Das wäre nachgedacht, reflektiert. pwo_170.019 „Nein, seine Liebe zu ermessen, pwo_170.020 Sei ewig meine größte Pflicht. pwo_170.021 Der Herr hat mein noch nie vergessen; pwo_170.022 Vergiß, mein Herz, auch seiner nicht.“ pwo_170.023 Verstand und Moral kommen hier zu Worte, kein Gefühl, am wenigsten pwo_170.024 ein konkret sich bethätigendes Gefühl. – pwo_170.025   Das weltliche Lied zeigt anfangs den Kampf volkstümlicher pwo_170.026 und fremder Elemente einerseits, volkstümlicher und individueller Elemente pwo_170.027 andererseits. Die fremden, modernen wie antiken Einflüsse pwo_170.028 siegen nur vorübergehend, auf die Dauer gründet sich aber die Herrschaft pwo_170.029 der Jndividualität. Formelle Dramatik – durch dialogische und pwo_170.030 scenische Elemente – lebt von je im Wesen des sangbaren Liedes: pwo_170.031 erst die neuere Epoche zeitigt aber die dramatische Psychologie, pwo_170.032 die Zerlegung der Volksseele in verschieden empfindende Jndividuen. pwo_170.033 So gewinnt auch die Lyrik eine ausgeprägt individuelle Färbung. pwo_170.034   Meisterhaft bildet diesen Stil Goethe aus. Er wagt es mit pwo_170.035 Bewußtsein, seine eigensten Leiden und Freuden zu künden. Auch pwo_170.036 wo bei den besten Minnesängern eigene Erlebnisse die konventionellen

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription. (2015-09-30T09:54:39Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: keine Angabe; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: wie Vorlage; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: nicht übernommen; Kustoden: nicht übernommen; langes s (ſ): wie Vorlage; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): wie Vorlage; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: nicht übernommen; u/v bzw. U/V: wie Vorlage; Vokale mit übergest. e: wie Vorlage; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/wolff_poetik_1899
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/wolff_poetik_1899/184
Zitationshilfe: Wolff, Eugen: Poetik: Die Gesetze der Poesie in ihrer geschichtlichen Entwicklung. Ein Grundriß. Oldenburg u. a., 1899, S. 170. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wolff_poetik_1899/184>, abgerufen am 29.04.2024.