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Wolff, Eugen: Poetik: Die Gesetze der Poesie in ihrer geschichtlichen Entwicklung. Ein Grundriß. Oldenburg u. a., 1899.

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eine Erweiterung zuerst auch auf andere Mythen, später pwo_180.002
auf profane Heroensagen erfahren; selbst geschichtliche Ereignisse aus pwo_180.003
der Gegenwart folgen. Die Bezeichnung der neuen poetischen Gattung pwo_180.004
bewahrt aber für die Dauer die Erinnerung an den Ursprung pwo_180.005
aus der Feier des Dionysos: nicht nur wird dem Gott ein Bock geopfert; pwo_180.006
vor allem ausschlaggebend war, daß der Chor im Kostüm von pwo_180.007
Satyrn, mit Ziegenfellen bekleidet erschien. So wird Tragödie pwo_180.008
(tragodia) d. ist Bocksgesang der natürliche Name für den Vortrag pwo_180.009
dieses Chors und für alles, was sich daraus entwickelt. Als schon pwo_180.010
zu Thespis Lebzeiten in Athen der Wettkampf für tragische Chöre zur pwo_180.011
Einführung gelangt, wird überdies ein Bock als Preis für den siegreichen pwo_180.012
Chormeister ausgesetzt.

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Auch der Geist überkommt dem Drama aus dem Dionysos-Kult, pwo_180.014
der Feier der üppig erblühenden wie der ersterbenden Natur. Leidenschaftlich pwo_180.015
überschäumend in Ausartung bis zu wilder Ekstase, wie pwo_180.016
er sich bald in wehmütiger Klage, bald in bacchantischer Lust giebt, pwo_180.017
verleiht er dem Drama eine Spannung auf die höchste Gefühlsskala. pwo_180.018
Jn den höchsten und erhabensten, wildesten Tönen des Pathos d. i. pwo_180.019
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entgegen. Die personifizierte und vergötterte Naturmacht ist pwo_180.021
es, die dahinstirbt; ihr Tod ist es, der die trauernde Anteilnahme der pwo_180.022
Menschen weckt.

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§ 74. pwo_180.024
Entwicklung und Blüte der griechischen Tragödie.
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Den Einzelnen gegenüber der Gesamtheit erblicken wir in der pwo_180.026
Tragödie unter Thespis' Händen. Ein eigentlicher Dialog gelangt pwo_180.027
erst mit Einführung eines zweiten Schauspielers zur Durchführung. pwo_180.028
Aeschylos, dem diese Maßnahme zu verdanken, war damit in die pwo_180.029
Lage versetzt, das unvermittelte Nebeneinander lyrischer und epischer pwo_180.030
Partieen wenigstens im Grundzug zu überwinden und eine wirkliche pwo_180.031
Handlung aneinanderzuknüpfen. Auch die von ihm eingeführte cyklische pwo_180.032
Zusammenstellung einer Tetralogie erweitert die Möglichkeit, von episodischer pwo_180.033
Heraushebung eines Hauptmomentes, meist des Ausgangs, pwo_180.034
zur Entfaltung eines vollen, in sich verknüpften Schicksalslaufes vorzuschreiten.

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Zitationshilfe: Wolff, Eugen: Poetik: Die Gesetze der Poesie in ihrer geschichtlichen Entwicklung. Ein Grundriß. Oldenburg u. a., 1899, S. 180. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wolff_poetik_1899/194>, abgerufen am 29.04.2024.