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Wolff, Eugen: Poetik: Die Gesetze der Poesie in ihrer geschichtlichen Entwicklung. Ein Grundriß. Oldenburg u. a., 1899.

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Namentlich der formalistische Trieb ist es, den das französische pwo_196.002
Drama mit dem römischen gemein hat, soweit die Technik sich auch pwo_196.003
im einzelnen vervollkommnet. Entscheidend fällt ins Gewicht, daß pwo_196.004
hier formale Gesichtspunkte für den gesamten dramatischen Organismus pwo_196.005
den Ausschlag geben und daß im ganzen die Entwicklung in die pwo_196.006
Grenzen gezwängt wird, welche man durch das antike Drama gesteckt pwo_196.007
glaubte. Nun ist dieses - wie wir sahen - aus völlig andern pwo_196.008
Voraussetzungen erwachsen: sowohl sein Zusammenhang mit heidnischen pwo_196.009
Festen wie seine Kettung an den Chor bedingte den Aufbau nicht pwo_196.010
unwesentlich.

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So bedeutet es zugleich eine formale Veräußerlichung und eine pwo_196.012
unorganische Uebertragung, wenn die französische Dramaturgie die pwo_196.013
sogenannten drei Einheiten als Grundgesetz der dramatischen Dichtkunst pwo_196.014
ausgiebt. Neben der innerlich bedeutsamen Einheit der Handlung pwo_196.015
werden da die Forderungen gestellt, daß sich die Handlung von Anfang pwo_196.016
bis zu Ende an ein und demselben Orte und innerhalb eines pwo_196.017
einzigen Tages abspiele. Außer durch Hinblick auf den (nicht einmal pwo_196.018
durchgängigen) Gebrauch des antiken Dramas suchte man diese Beschränkungen pwo_196.019
durch den rein äußerlichen Hinweis zu begründen, daß pwo_196.020
die Zuschauer auf demselben Platze sitzen blieben, also auch die vor pwo_196.021
ihnen aufgeschlagene Scene nicht bald den einen, bald den andern pwo_196.022
Ort darstellen könne; ja, mit demselben Argument führten französische pwo_196.023
Theoretiker ins Feld, man könne den Zuschauern nicht zumuten zu pwo_196.024
glauben, daß sie in einem Niedersitzen mehrere Tage oder Jahre pwo_196.025
vorüberrauschen sähen!

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Schon Johann Elias Schlegel, auf den sich Lessing in seinem pwo_196.027
Kampf gegen die drei Einheiten (Hamburgische Dramaturgie, 44. Stück) pwo_196.028
beruft, findet den richtigen Gesichtspunkt, daß "der Geist (denn mit pwo_196.029
ihm hat man zu thun, und nicht mit dem Körper, der auf den pwo_196.030
Bänken sitzt) so starke Flügel hat, daß er dem Poeten auch noch weiter pwo_196.031
von einer Zeit zur andern und von einem Orte zum andern pwo_196.032
folgen könnte". Nachdem er so das Recht der Phantasie gegenüber pwo_196.033
der Engherzigkeit des französischen Dramas geltend gemacht, weist pwo_196.034
schon Schlegel und nach ihm mit wuchtigeren Schlägen Lessing die pwo_196.035
Gewaltsamkeit und Aeußerlichkeit des Verfahrens nach, zu welchem die pwo_196.036
Franzosen durch Uebernahme der drei Einheiten sich gezwungen sahen:

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  Namentlich der formalistische Trieb ist es, den das französische pwo_196.002
Drama mit dem römischen gemein hat, soweit die Technik sich auch pwo_196.003
im einzelnen vervollkommnet. Entscheidend fällt ins Gewicht, daß pwo_196.004
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Festen wie seine Kettung an den Chor bedingte den Aufbau nicht pwo_196.010
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  So bedeutet es zugleich eine formale Veräußerlichung und eine pwo_196.012
unorganische Uebertragung, wenn die französische Dramaturgie die pwo_196.013
sogenannten drei Einheiten als Grundgesetz der dramatischen Dichtkunst pwo_196.014
ausgiebt. Neben der innerlich bedeutsamen Einheit der Handlung pwo_196.015
werden da die Forderungen gestellt, daß sich die Handlung von Anfang pwo_196.016
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durch den rein äußerlichen Hinweis zu begründen, daß pwo_196.020
die Zuschauer auf demselben Platze sitzen blieben, also auch die vor pwo_196.021
ihnen aufgeschlagene Scene nicht bald den einen, bald den andern pwo_196.022
Ort darstellen könne; ja, mit demselben Argument führten französische pwo_196.023
Theoretiker ins Feld, man könne den Zuschauern nicht zumuten zu pwo_196.024
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  Schon Johann Elias Schlegel, auf den sich Lessing in seinem pwo_196.027
Kampf gegen die drei Einheiten (Hamburgische Dramaturgie, 44. Stück) pwo_196.028
beruft, findet den richtigen Gesichtspunkt, daß „der Geist (denn mit pwo_196.029
ihm hat man zu thun, und nicht mit dem Körper, der auf den pwo_196.030
Bänken sitzt) so starke Flügel hat, daß er dem Poeten auch noch weiter pwo_196.031
von einer Zeit zur andern und von einem Orte zum andern pwo_196.032
folgen könnte“. Nachdem er so das Recht der Phantasie gegenüber pwo_196.033
der Engherzigkeit des französischen Dramas geltend gemacht, weist pwo_196.034
schon Schlegel und nach ihm mit wuchtigeren Schlägen Lessing die pwo_196.035
Gewaltsamkeit und Aeußerlichkeit des Verfahrens nach, zu welchem die pwo_196.036
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Zitationshilfe: Wolff, Eugen: Poetik: Die Gesetze der Poesie in ihrer geschichtlichen Entwicklung. Ein Grundriß. Oldenburg u. a., 1899, S. 196. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wolff_poetik_1899/210>, abgerufen am 29.04.2024.