welche wir hier schon männlich und weiblich nennen; endlich vereinigen sich diese Gegensätze in der Verstäubung der Antheren und der Tod der Blüthe tritt unmittelbar ein. Eben so ist für das gesammte Thierreich die Vereinigung der Geschlechter die Spitze des Daseins, und Millionen von Geschöpfen leben nur bis zu diesem Höhenpunkt ihrer Existenz, und in ihrem gegenseitig in einander Untergehen erreichen sie, was sonderbarer Weise in einer uralten all¬ mählig mit den größten Wunderlichkeiten unterwachsenen Religion der Menschheit -- dem Buddhaismns -- auch dem Menschen als die höchste Seeligkeit dargestellt wird -- die Vernichtung.
Auch in der Menschheit tritt nun etwas Aehnliches hervor; denn wenn wir sagten, daß sie selbst sich immer¬ fort in der Vereinigung der entgegengesetzten Individuen wieder erzeuge, so geht daraus unmittelbar hervor, daß diese Individuen nothwendig gerade in dieser Vereinigung auch wieder den ersten Grund ihres Unterganges finden, da jede Wiedererzeugung die Vernichtung voraussetzt, wie denn schon das Bestehen unsers eigenen Organismus nur an die rastlos wiederkehrende Neubildung geknüpft ist, welche wiederum erst möglich wird durch die rastlose Selbstzerstö¬ rung. Nun ist aber ferner zu bedenken, daß die Menschheit sich von allen uns sonst bekannten Kreisen des Lebendigen unterscheidet durch die unendlich verschiedene Ausprägung der Individualität, daß daher auch der ursprüngliche Ge¬ gensatz der Menschheit in den Geschlechtern in unermeßlich verschiedene Formen sich ausdrücken muß, und daß also (wie ganz scharf erwiesen werden könnte) wirklich jedes Individuum eines Geschlechts, eigentlich auch nur ein einziges ihm ganz vollkommen in der Gleich¬ artigkeit entgegengesetztes Individuum des andern Geschlechts auffinden kann. (Daher schon die alte halb-humoristische Mythe des Plato von den auseinan¬ dergetrennten Ur-Menschen, deren Hälften nun überall
welche wir hier ſchon männlich und weiblich nennen; endlich vereinigen ſich dieſe Gegenſätze in der Verſtäubung der Antheren und der Tod der Blüthe tritt unmittelbar ein. Eben ſo iſt für das geſammte Thierreich die Vereinigung der Geſchlechter die Spitze des Daſeins, und Millionen von Geſchöpfen leben nur bis zu dieſem Höhenpunkt ihrer Exiſtenz, und in ihrem gegenſeitig in einander Untergehen erreichen ſie, was ſonderbarer Weiſe in einer uralten all¬ mählig mit den größten Wunderlichkeiten unterwachſenen Religion der Menſchheit — dem Buddhaismns — auch dem Menſchen als die höchſte Seeligkeit dargeſtellt wird — die Vernichtung.
Auch in der Menſchheit tritt nun etwas Aehnliches hervor; denn wenn wir ſagten, daß ſie ſelbſt ſich immer¬ fort in der Vereinigung der entgegengeſetzten Individuen wieder erzeuge, ſo geht daraus unmittelbar hervor, daß dieſe Individuen nothwendig gerade in dieſer Vereinigung auch wieder den erſten Grund ihres Unterganges finden, da jede Wiedererzeugung die Vernichtung vorausſetzt, wie denn ſchon das Beſtehen unſers eigenen Organismus nur an die raſtlos wiederkehrende Neubildung geknüpft iſt, welche wiederum erſt möglich wird durch die raſtloſe Selbſtzerſtö¬ rung. Nun iſt aber ferner zu bedenken, daß die Menſchheit ſich von allen uns ſonſt bekannten Kreiſen des Lebendigen unterſcheidet durch die unendlich verſchiedene Ausprägung der Individualität, daß daher auch der urſprüngliche Ge¬ genſatz der Menſchheit in den Geſchlechtern in unermeßlich verſchiedene Formen ſich ausdrücken muß, und daß alſo (wie ganz ſcharf erwieſen werden könnte) wirklich jedes Individuum eines Geſchlechts, eigentlich auch nur ein einziges ihm ganz vollkommen in der Gleich¬ artigkeit entgegengeſetztes Individuum des andern Geſchlechts auffinden kann. (Daher ſchon die alte halb-humoriſtiſche Mythe des Plato von den auseinan¬ dergetrennten Ur-Menſchen, deren Hälften nun überall
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><divn="4"><p><pbfacs="#f0301"n="285"/>
welche wir hier ſchon männlich und weiblich nennen; endlich<lb/>
vereinigen ſich dieſe Gegenſätze in der Verſtäubung der<lb/>
Antheren und der Tod der Blüthe tritt unmittelbar ein.<lb/>
Eben ſo iſt für das geſammte Thierreich die Vereinigung<lb/>
der Geſchlechter die Spitze des Daſeins, und Millionen<lb/>
von Geſchöpfen leben nur bis zu dieſem Höhenpunkt ihrer<lb/>
Exiſtenz, und in ihrem gegenſeitig in einander Untergehen<lb/>
erreichen ſie, was ſonderbarer Weiſe in einer uralten all¬<lb/>
mählig mit den größten Wunderlichkeiten unterwachſenen<lb/>
Religion der Menſchheit — dem Buddhaismns — auch dem<lb/>
Menſchen als die höchſte Seeligkeit dargeſtellt wird — die<lb/>
Vernichtung.</p><lb/><p>Auch in der Menſchheit tritt nun etwas Aehnliches<lb/>
hervor; denn wenn wir ſagten, daß ſie ſelbſt ſich immer¬<lb/>
fort in der Vereinigung der entgegengeſetzten Individuen<lb/>
wieder erzeuge, ſo geht daraus unmittelbar hervor, daß<lb/>
dieſe Individuen nothwendig gerade in dieſer Vereinigung<lb/>
auch wieder den erſten Grund ihres Unterganges finden,<lb/>
da jede Wiedererzeugung die Vernichtung vorausſetzt, wie<lb/>
denn ſchon das Beſtehen unſers eigenen Organismus nur<lb/>
an die raſtlos wiederkehrende Neubildung geknüpft iſt, welche<lb/>
wiederum erſt möglich wird durch die raſtloſe Selbſtzerſtö¬<lb/>
rung. Nun iſt aber ferner zu bedenken, daß die Menſchheit<lb/>ſich von allen uns ſonſt bekannten Kreiſen des Lebendigen<lb/>
unterſcheidet durch die unendlich verſchiedene Ausprägung<lb/>
der Individualität, daß daher auch der urſprüngliche Ge¬<lb/>
genſatz der Menſchheit in den Geſchlechtern in unermeßlich<lb/>
verſchiedene Formen ſich ausdrücken muß, und daß alſo<lb/>
(wie ganz ſcharf erwieſen werden könnte) wirklich <hirendition="#g">jedes<lb/>
Individuum eines Geſchlechts</hi>, eigentlich auch nur<lb/><hirendition="#g">ein einziges ihm ganz vollkommen in der Gleich¬<lb/>
artigkeit entgegengeſetztes Individuum des<lb/>
andern Geſchlechts</hi> auffinden kann. (Daher ſchon die<lb/>
alte halb-humoriſtiſche Mythe des Plato von den auseinan¬<lb/>
dergetrennten Ur-Menſchen, deren Hälften nun überall<lb/></p></div></div></div></div></body></text></TEI>
[285/0301]
welche wir hier ſchon männlich und weiblich nennen; endlich
vereinigen ſich dieſe Gegenſätze in der Verſtäubung der
Antheren und der Tod der Blüthe tritt unmittelbar ein.
Eben ſo iſt für das geſammte Thierreich die Vereinigung
der Geſchlechter die Spitze des Daſeins, und Millionen
von Geſchöpfen leben nur bis zu dieſem Höhenpunkt ihrer
Exiſtenz, und in ihrem gegenſeitig in einander Untergehen
erreichen ſie, was ſonderbarer Weiſe in einer uralten all¬
mählig mit den größten Wunderlichkeiten unterwachſenen
Religion der Menſchheit — dem Buddhaismns — auch dem
Menſchen als die höchſte Seeligkeit dargeſtellt wird — die
Vernichtung.
Auch in der Menſchheit tritt nun etwas Aehnliches
hervor; denn wenn wir ſagten, daß ſie ſelbſt ſich immer¬
fort in der Vereinigung der entgegengeſetzten Individuen
wieder erzeuge, ſo geht daraus unmittelbar hervor, daß
dieſe Individuen nothwendig gerade in dieſer Vereinigung
auch wieder den erſten Grund ihres Unterganges finden,
da jede Wiedererzeugung die Vernichtung vorausſetzt, wie
denn ſchon das Beſtehen unſers eigenen Organismus nur
an die raſtlos wiederkehrende Neubildung geknüpft iſt, welche
wiederum erſt möglich wird durch die raſtloſe Selbſtzerſtö¬
rung. Nun iſt aber ferner zu bedenken, daß die Menſchheit
ſich von allen uns ſonſt bekannten Kreiſen des Lebendigen
unterſcheidet durch die unendlich verſchiedene Ausprägung
der Individualität, daß daher auch der urſprüngliche Ge¬
genſatz der Menſchheit in den Geſchlechtern in unermeßlich
verſchiedene Formen ſich ausdrücken muß, und daß alſo
(wie ganz ſcharf erwieſen werden könnte) wirklich jedes
Individuum eines Geſchlechts, eigentlich auch nur
ein einziges ihm ganz vollkommen in der Gleich¬
artigkeit entgegengeſetztes Individuum des
andern Geſchlechts auffinden kann. (Daher ſchon die
alte halb-humoriſtiſche Mythe des Plato von den auseinan¬
dergetrennten Ur-Menſchen, deren Hälften nun überall
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Carus, Carl Gustav: Psyche. Zur Entwicklungsgeschichte der Seele. Pforzheim, 1846, S. 285. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/carus_psyche_1846/301>, abgerufen am 01.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.