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Carus, Carl Gustav: Psyche. Zur Entwicklungsgeschichte der Seele. Pforzheim, 1846.

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welche wir hier schon männlich und weiblich nennen; endlich
vereinigen sich diese Gegensätze in der Verstäubung der
Antheren und der Tod der Blüthe tritt unmittelbar ein.
Eben so ist für das gesammte Thierreich die Vereinigung
der Geschlechter die Spitze des Daseins, und Millionen
von Geschöpfen leben nur bis zu diesem Höhenpunkt ihrer
Existenz, und in ihrem gegenseitig in einander Untergehen
erreichen sie, was sonderbarer Weise in einer uralten all¬
mählig mit den größten Wunderlichkeiten unterwachsenen
Religion der Menschheit -- dem Buddhaismns -- auch dem
Menschen als die höchste Seeligkeit dargestellt wird -- die
Vernichtung.

Auch in der Menschheit tritt nun etwas Aehnliches
hervor; denn wenn wir sagten, daß sie selbst sich immer¬
fort in der Vereinigung der entgegengesetzten Individuen
wieder erzeuge, so geht daraus unmittelbar hervor, daß
diese Individuen nothwendig gerade in dieser Vereinigung
auch wieder den ersten Grund ihres Unterganges finden,
da jede Wiedererzeugung die Vernichtung voraussetzt, wie
denn schon das Bestehen unsers eigenen Organismus nur
an die rastlos wiederkehrende Neubildung geknüpft ist, welche
wiederum erst möglich wird durch die rastlose Selbstzerstö¬
rung. Nun ist aber ferner zu bedenken, daß die Menschheit
sich von allen uns sonst bekannten Kreisen des Lebendigen
unterscheidet durch die unendlich verschiedene Ausprägung
der Individualität, daß daher auch der ursprüngliche Ge¬
gensatz der Menschheit in den Geschlechtern in unermeßlich
verschiedene Formen sich ausdrücken muß, und daß also
(wie ganz scharf erwiesen werden könnte) wirklich jedes
Individuum eines Geschlechts
, eigentlich auch nur
ein einziges ihm ganz vollkommen in der Gleich¬
artigkeit entgegengesetztes Individuum des
andern Geschlechts
auffinden kann. (Daher schon die
alte halb-humoristische Mythe des Plato von den auseinan¬
dergetrennten Ur-Menschen, deren Hälften nun überall

welche wir hier ſchon männlich und weiblich nennen; endlich
vereinigen ſich dieſe Gegenſätze in der Verſtäubung der
Antheren und der Tod der Blüthe tritt unmittelbar ein.
Eben ſo iſt für das geſammte Thierreich die Vereinigung
der Geſchlechter die Spitze des Daſeins, und Millionen
von Geſchöpfen leben nur bis zu dieſem Höhenpunkt ihrer
Exiſtenz, und in ihrem gegenſeitig in einander Untergehen
erreichen ſie, was ſonderbarer Weiſe in einer uralten all¬
mählig mit den größten Wunderlichkeiten unterwachſenen
Religion der Menſchheit — dem Buddhaismns — auch dem
Menſchen als die höchſte Seeligkeit dargeſtellt wird — die
Vernichtung.

Auch in der Menſchheit tritt nun etwas Aehnliches
hervor; denn wenn wir ſagten, daß ſie ſelbſt ſich immer¬
fort in der Vereinigung der entgegengeſetzten Individuen
wieder erzeuge, ſo geht daraus unmittelbar hervor, daß
dieſe Individuen nothwendig gerade in dieſer Vereinigung
auch wieder den erſten Grund ihres Unterganges finden,
da jede Wiedererzeugung die Vernichtung vorausſetzt, wie
denn ſchon das Beſtehen unſers eigenen Organismus nur
an die raſtlos wiederkehrende Neubildung geknüpft iſt, welche
wiederum erſt möglich wird durch die raſtloſe Selbſtzerſtö¬
rung. Nun iſt aber ferner zu bedenken, daß die Menſchheit
ſich von allen uns ſonſt bekannten Kreiſen des Lebendigen
unterſcheidet durch die unendlich verſchiedene Ausprägung
der Individualität, daß daher auch der urſprüngliche Ge¬
genſatz der Menſchheit in den Geſchlechtern in unermeßlich
verſchiedene Formen ſich ausdrücken muß, und daß alſo
(wie ganz ſcharf erwieſen werden könnte) wirklich jedes
Individuum eines Geſchlechts
, eigentlich auch nur
ein einziges ihm ganz vollkommen in der Gleich¬
artigkeit entgegengeſetztes Individuum des
andern Geſchlechts
auffinden kann. (Daher ſchon die
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[285/0301] welche wir hier ſchon männlich und weiblich nennen; endlich vereinigen ſich dieſe Gegenſätze in der Verſtäubung der Antheren und der Tod der Blüthe tritt unmittelbar ein. Eben ſo iſt für das geſammte Thierreich die Vereinigung der Geſchlechter die Spitze des Daſeins, und Millionen von Geſchöpfen leben nur bis zu dieſem Höhenpunkt ihrer Exiſtenz, und in ihrem gegenſeitig in einander Untergehen erreichen ſie, was ſonderbarer Weiſe in einer uralten all¬ mählig mit den größten Wunderlichkeiten unterwachſenen Religion der Menſchheit — dem Buddhaismns — auch dem Menſchen als die höchſte Seeligkeit dargeſtellt wird — die Vernichtung. Auch in der Menſchheit tritt nun etwas Aehnliches hervor; denn wenn wir ſagten, daß ſie ſelbſt ſich immer¬ fort in der Vereinigung der entgegengeſetzten Individuen wieder erzeuge, ſo geht daraus unmittelbar hervor, daß dieſe Individuen nothwendig gerade in dieſer Vereinigung auch wieder den erſten Grund ihres Unterganges finden, da jede Wiedererzeugung die Vernichtung vorausſetzt, wie denn ſchon das Beſtehen unſers eigenen Organismus nur an die raſtlos wiederkehrende Neubildung geknüpft iſt, welche wiederum erſt möglich wird durch die raſtloſe Selbſtzerſtö¬ rung. Nun iſt aber ferner zu bedenken, daß die Menſchheit ſich von allen uns ſonſt bekannten Kreiſen des Lebendigen unterſcheidet durch die unendlich verſchiedene Ausprägung der Individualität, daß daher auch der urſprüngliche Ge¬ genſatz der Menſchheit in den Geſchlechtern in unermeßlich verſchiedene Formen ſich ausdrücken muß, und daß alſo (wie ganz ſcharf erwieſen werden könnte) wirklich jedes Individuum eines Geſchlechts, eigentlich auch nur ein einziges ihm ganz vollkommen in der Gleich¬ artigkeit entgegengeſetztes Individuum des andern Geſchlechts auffinden kann. (Daher ſchon die alte halb-humoriſtiſche Mythe des Plato von den auseinan¬ dergetrennten Ur-Menſchen, deren Hälften nun überall

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Zitationshilfe: Carus, Carl Gustav: Psyche. Zur Entwicklungsgeschichte der Seele. Pforzheim, 1846, S. 285. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/carus_psyche_1846/301>, abgerufen am 01.11.2024.