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Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, I. Semester. I. Band.

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Maurerloge will, da ist man christlicher Staat, höchst christlicher
Staat, da kommt man mit Stangen und mit Spießen, um das
Heiligste zu retten. Wenn dagegen in Rußland Tausenden ihr
Heiligstes, ihr Glaube, nicht von philosophischen Schriftstellern
"geraubt," sondern von Kosaken und Polizeiknechten geschändet,
verbittert und ausgeprügelt wird, da hat die höhere Politik der
christlichen Staaten keine Kanonen und Bayonette, keine Stangen
und Spieße, keine drohenden Noten und Congresse, sondern ein viel¬
sagendes Achselzucken: Wir können an Rußland nicht unsern Maß,
stab legen. Dort vertragen sich eben Moral und Humanität noch
nicht mit den Interessen der Politik.

Und Rußland weiß diese humane Schonung und diese ritten
liebe Langmuth seiner christlichen College" zu benutzen; denn er,
der Türke des 19. Jahrhunderts, ist ja nicht schwach, wie der alte
am Bosporus, an dem, wegen eines Renegaten, Europa seinen
Humanitätseifcr wohlfeil herausbeißen konnte. Nein, Rußland ist
Gott sei Dank! stark genug, um ein Exempel zu statuiren und zu
zeigen, daß ein Staat, wenn er nur vom Schwindel moderner
Ideen sich frei hält, Alles darf, selbst Glaubens- und Gewissens¬
freiheit zertreten, die Palladien der Menschheit, wie es die Bücher¬
macher nennen: -- die Flachköpfe, die von den geringen geistigen Be¬
dürfnissen und der Schmiegsamkeit der unverdorbenen Menschen-
creatur keinen Begriff haben. Nußland betreibt die bewaffnete Pro-
selitenmacherei mit einem schauerlichen Eifer, und es ist in seinen
Mitteln so gar nicht wählig, wie der Fanatismus des Mittelalters.
Mit dieser Rücksichtslosigkeit verbindet es aber nicht auch die Blind¬
heit und Ueberzeugung des religiösen Fanatismus -- der ihm ei¬
gentlich ganz abgeht, -- sondem listige Berechnung, kalte Aus¬
dauer, aalglatte Gewandtheit.

Nicht weniger als drei Religionen sind es, die es zu gleicher
Zeit aufzulösen und in den Schooß des NussenthumS "zurückzufüh¬
ren" bemüht ist. Ich sage deö NussenthumS, nicht der russischen
Kirche, denn es liegt ihrem kaiserlichen Oberhaupt weniger an den
religiösen Dogmen als an den politischen Lehren seines Glaubens-
Bekenntnisses, weniger an den Seelen, die er dem Papst oder Lu¬
ther abtrünnig macht, als an den Polen oder Deutschen, die er in
echte Russen verwandelt. In den Ostseeprovinzen scheint sich Ruß-


Maurerloge will, da ist man christlicher Staat, höchst christlicher
Staat, da kommt man mit Stangen und mit Spießen, um das
Heiligste zu retten. Wenn dagegen in Rußland Tausenden ihr
Heiligstes, ihr Glaube, nicht von philosophischen Schriftstellern
„geraubt," sondern von Kosaken und Polizeiknechten geschändet,
verbittert und ausgeprügelt wird, da hat die höhere Politik der
christlichen Staaten keine Kanonen und Bayonette, keine Stangen
und Spieße, keine drohenden Noten und Congresse, sondern ein viel¬
sagendes Achselzucken: Wir können an Rußland nicht unsern Maß,
stab legen. Dort vertragen sich eben Moral und Humanität noch
nicht mit den Interessen der Politik.

Und Rußland weiß diese humane Schonung und diese ritten
liebe Langmuth seiner christlichen College» zu benutzen; denn er,
der Türke des 19. Jahrhunderts, ist ja nicht schwach, wie der alte
am Bosporus, an dem, wegen eines Renegaten, Europa seinen
Humanitätseifcr wohlfeil herausbeißen konnte. Nein, Rußland ist
Gott sei Dank! stark genug, um ein Exempel zu statuiren und zu
zeigen, daß ein Staat, wenn er nur vom Schwindel moderner
Ideen sich frei hält, Alles darf, selbst Glaubens- und Gewissens¬
freiheit zertreten, die Palladien der Menschheit, wie es die Bücher¬
macher nennen: — die Flachköpfe, die von den geringen geistigen Be¬
dürfnissen und der Schmiegsamkeit der unverdorbenen Menschen-
creatur keinen Begriff haben. Nußland betreibt die bewaffnete Pro-
selitenmacherei mit einem schauerlichen Eifer, und es ist in seinen
Mitteln so gar nicht wählig, wie der Fanatismus des Mittelalters.
Mit dieser Rücksichtslosigkeit verbindet es aber nicht auch die Blind¬
heit und Ueberzeugung des religiösen Fanatismus — der ihm ei¬
gentlich ganz abgeht, — sondem listige Berechnung, kalte Aus¬
dauer, aalglatte Gewandtheit.

Nicht weniger als drei Religionen sind es, die es zu gleicher
Zeit aufzulösen und in den Schooß des NussenthumS „zurückzufüh¬
ren" bemüht ist. Ich sage deö NussenthumS, nicht der russischen
Kirche, denn es liegt ihrem kaiserlichen Oberhaupt weniger an den
religiösen Dogmen als an den politischen Lehren seines Glaubens-
Bekenntnisses, weniger an den Seelen, die er dem Papst oder Lu¬
ther abtrünnig macht, als an den Polen oder Deutschen, die er in
echte Russen verwandelt. In den Ostseeprovinzen scheint sich Ruß-


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[0024] Maurerloge will, da ist man christlicher Staat, höchst christlicher Staat, da kommt man mit Stangen und mit Spießen, um das Heiligste zu retten. Wenn dagegen in Rußland Tausenden ihr Heiligstes, ihr Glaube, nicht von philosophischen Schriftstellern „geraubt," sondern von Kosaken und Polizeiknechten geschändet, verbittert und ausgeprügelt wird, da hat die höhere Politik der christlichen Staaten keine Kanonen und Bayonette, keine Stangen und Spieße, keine drohenden Noten und Congresse, sondern ein viel¬ sagendes Achselzucken: Wir können an Rußland nicht unsern Maß, stab legen. Dort vertragen sich eben Moral und Humanität noch nicht mit den Interessen der Politik. Und Rußland weiß diese humane Schonung und diese ritten liebe Langmuth seiner christlichen College» zu benutzen; denn er, der Türke des 19. Jahrhunderts, ist ja nicht schwach, wie der alte am Bosporus, an dem, wegen eines Renegaten, Europa seinen Humanitätseifcr wohlfeil herausbeißen konnte. Nein, Rußland ist Gott sei Dank! stark genug, um ein Exempel zu statuiren und zu zeigen, daß ein Staat, wenn er nur vom Schwindel moderner Ideen sich frei hält, Alles darf, selbst Glaubens- und Gewissens¬ freiheit zertreten, die Palladien der Menschheit, wie es die Bücher¬ macher nennen: — die Flachköpfe, die von den geringen geistigen Be¬ dürfnissen und der Schmiegsamkeit der unverdorbenen Menschen- creatur keinen Begriff haben. Nußland betreibt die bewaffnete Pro- selitenmacherei mit einem schauerlichen Eifer, und es ist in seinen Mitteln so gar nicht wählig, wie der Fanatismus des Mittelalters. Mit dieser Rücksichtslosigkeit verbindet es aber nicht auch die Blind¬ heit und Ueberzeugung des religiösen Fanatismus — der ihm ei¬ gentlich ganz abgeht, — sondem listige Berechnung, kalte Aus¬ dauer, aalglatte Gewandtheit. Nicht weniger als drei Religionen sind es, die es zu gleicher Zeit aufzulösen und in den Schooß des NussenthumS „zurückzufüh¬ ren" bemüht ist. Ich sage deö NussenthumS, nicht der russischen Kirche, denn es liegt ihrem kaiserlichen Oberhaupt weniger an den religiösen Dogmen als an den politischen Lehren seines Glaubens- Bekenntnisses, weniger an den Seelen, die er dem Papst oder Lu¬ ther abtrünnig macht, als an den Polen oder Deutschen, die er in echte Russen verwandelt. In den Ostseeprovinzen scheint sich Ruß-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341550_181809/24>, abgerufen am 01.11.2024.