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Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, I. Semester. I. Band.

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die er leicht mißbrauchen kann, und die auch bei dieser Mündlich-
keit ohne Oeffentlichkeit, ohne Controle, ganz sicher gemißbraucht
werden wird. Dürste die Presse die Ausübung solcher neuen Ein¬
richtungen überwachen, dann würde es dem Mißbrauch sicherlich
schwerer, sich einzuftessen. Aber bei der Heimlichkeit unserer Zu¬
stände gleichen solche Erlasse jenen Fischen, die man zur Fortpflan¬
zung in den Teich wirft und die oft verfaulen, oder von Ottern
gefressen werden. Wie wohlgemeint war nicht einst jene Verord¬
nung der Beiziehung zweier unabhängiger Bürger zu jeder Crimi-
naluntersuchung, und was ist in der Praxis daraus geworden!
Hätte es in der Macht der Presse gestanden, als sie zum ersten¬
male den Mißbrauch erfuhr, ihn öffentlich zu rügen, und diese Rüge
bei jeder Gelegenheit zu erneuern, so wäre die oberste Justizstelle
gleich anfangs aufmerksam geworden. Bevor aber solcher Mi߬
brauch allmählig zum Gespräch wird, ist er eine Gewohnheit, die
man als mit zur Sache gehörend betrachtet, und wollte die oberste
Behörde jetzt strafen, so müßte sie statt einer einzigen, wer weiß
wie Viele, wer weiß ob nicht Alle zur Rechenschaft ziehen.

Aber Himmel! wie weit haben wir uns verirrt, welch eine
Abschweifung von unserm Hauptthema! Statt von der Wiener
Gesellschaft zu sprechen, von jener heitern, buntgewebten Masse, die
in einer der reizendsten und üppigsten Stadt der Welt auf und nie-
derwogt, sind wir in die ernsten Hallen des Gerichts gerathen, so¬
gar bis in die traurigen Winkel des Criminalgerichts, wo der ein¬
silbige Kukuksschlag eines Verbrechers, oder, was noch schlimmer,
eines Unschuldigen, Antwort giebt auf das Verhör seines Untersu-
chungöraths, in jene dunkeln Stuben des "hohen Markes," wo der
naive drollige Wiener Dialect, der nur zu einem fröhlichen Jodel¬
rausch geschaffen scheint, plötzlich seinem Charakter untreu wird,
und in einen um so widerlicheren Ton umschlägt, als ihm der Alls¬
druck der Kühnheit fehlt, der manchem großen Verbrecher eine Art
Poesie verleiht, als ihm das Gepräge der Erhabenheit abgeht, der
jedem Richter die Würde eines von Gott eingesetzten giebt. Und
doch werden wir eben da wieder die Anknüpfung unseres Haupt-
themaö finden, wir werden gerade da einer jener dünnen Scheide¬
wände begegnen, die den Kleinbürger von dem Großbürger, die be¬
scheidene Bourgeoisie von dem gewichtigen Mittelstande trennt.
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die er leicht mißbrauchen kann, und die auch bei dieser Mündlich-
keit ohne Oeffentlichkeit, ohne Controle, ganz sicher gemißbraucht
werden wird. Dürste die Presse die Ausübung solcher neuen Ein¬
richtungen überwachen, dann würde es dem Mißbrauch sicherlich
schwerer, sich einzuftessen. Aber bei der Heimlichkeit unserer Zu¬
stände gleichen solche Erlasse jenen Fischen, die man zur Fortpflan¬
zung in den Teich wirft und die oft verfaulen, oder von Ottern
gefressen werden. Wie wohlgemeint war nicht einst jene Verord¬
nung der Beiziehung zweier unabhängiger Bürger zu jeder Crimi-
naluntersuchung, und was ist in der Praxis daraus geworden!
Hätte es in der Macht der Presse gestanden, als sie zum ersten¬
male den Mißbrauch erfuhr, ihn öffentlich zu rügen, und diese Rüge
bei jeder Gelegenheit zu erneuern, so wäre die oberste Justizstelle
gleich anfangs aufmerksam geworden. Bevor aber solcher Mi߬
brauch allmählig zum Gespräch wird, ist er eine Gewohnheit, die
man als mit zur Sache gehörend betrachtet, und wollte die oberste
Behörde jetzt strafen, so müßte sie statt einer einzigen, wer weiß
wie Viele, wer weiß ob nicht Alle zur Rechenschaft ziehen.

Aber Himmel! wie weit haben wir uns verirrt, welch eine
Abschweifung von unserm Hauptthema! Statt von der Wiener
Gesellschaft zu sprechen, von jener heitern, buntgewebten Masse, die
in einer der reizendsten und üppigsten Stadt der Welt auf und nie-
derwogt, sind wir in die ernsten Hallen des Gerichts gerathen, so¬
gar bis in die traurigen Winkel des Criminalgerichts, wo der ein¬
silbige Kukuksschlag eines Verbrechers, oder, was noch schlimmer,
eines Unschuldigen, Antwort giebt auf das Verhör seines Untersu-
chungöraths, in jene dunkeln Stuben des „hohen Markes," wo der
naive drollige Wiener Dialect, der nur zu einem fröhlichen Jodel¬
rausch geschaffen scheint, plötzlich seinem Charakter untreu wird,
und in einen um so widerlicheren Ton umschlägt, als ihm der Alls¬
druck der Kühnheit fehlt, der manchem großen Verbrecher eine Art
Poesie verleiht, als ihm das Gepräge der Erhabenheit abgeht, der
jedem Richter die Würde eines von Gott eingesetzten giebt. Und
doch werden wir eben da wieder die Anknüpfung unseres Haupt-
themaö finden, wir werden gerade da einer jener dünnen Scheide¬
wände begegnen, die den Kleinbürger von dem Großbürger, die be¬
scheidene Bourgeoisie von dem gewichtigen Mittelstande trennt.
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[0489] die er leicht mißbrauchen kann, und die auch bei dieser Mündlich- keit ohne Oeffentlichkeit, ohne Controle, ganz sicher gemißbraucht werden wird. Dürste die Presse die Ausübung solcher neuen Ein¬ richtungen überwachen, dann würde es dem Mißbrauch sicherlich schwerer, sich einzuftessen. Aber bei der Heimlichkeit unserer Zu¬ stände gleichen solche Erlasse jenen Fischen, die man zur Fortpflan¬ zung in den Teich wirft und die oft verfaulen, oder von Ottern gefressen werden. Wie wohlgemeint war nicht einst jene Verord¬ nung der Beiziehung zweier unabhängiger Bürger zu jeder Crimi- naluntersuchung, und was ist in der Praxis daraus geworden! Hätte es in der Macht der Presse gestanden, als sie zum ersten¬ male den Mißbrauch erfuhr, ihn öffentlich zu rügen, und diese Rüge bei jeder Gelegenheit zu erneuern, so wäre die oberste Justizstelle gleich anfangs aufmerksam geworden. Bevor aber solcher Mi߬ brauch allmählig zum Gespräch wird, ist er eine Gewohnheit, die man als mit zur Sache gehörend betrachtet, und wollte die oberste Behörde jetzt strafen, so müßte sie statt einer einzigen, wer weiß wie Viele, wer weiß ob nicht Alle zur Rechenschaft ziehen. Aber Himmel! wie weit haben wir uns verirrt, welch eine Abschweifung von unserm Hauptthema! Statt von der Wiener Gesellschaft zu sprechen, von jener heitern, buntgewebten Masse, die in einer der reizendsten und üppigsten Stadt der Welt auf und nie- derwogt, sind wir in die ernsten Hallen des Gerichts gerathen, so¬ gar bis in die traurigen Winkel des Criminalgerichts, wo der ein¬ silbige Kukuksschlag eines Verbrechers, oder, was noch schlimmer, eines Unschuldigen, Antwort giebt auf das Verhör seines Untersu- chungöraths, in jene dunkeln Stuben des „hohen Markes," wo der naive drollige Wiener Dialect, der nur zu einem fröhlichen Jodel¬ rausch geschaffen scheint, plötzlich seinem Charakter untreu wird, und in einen um so widerlicheren Ton umschlägt, als ihm der Alls¬ druck der Kühnheit fehlt, der manchem großen Verbrecher eine Art Poesie verleiht, als ihm das Gepräge der Erhabenheit abgeht, der jedem Richter die Würde eines von Gott eingesetzten giebt. Und doch werden wir eben da wieder die Anknüpfung unseres Haupt- themaö finden, wir werden gerade da einer jener dünnen Scheide¬ wände begegnen, die den Kleinbürger von dem Großbürger, die be¬ scheidene Bourgeoisie von dem gewichtigen Mittelstande trennt. ' Grenzboten, I8i«!. I. 61

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341550_181809/489>, abgerufen am 26.04.2024.