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Hirschfeld, Christian Cay Lorenz: Theorie der Gartenkunst. Bd. 4. Leipzig, 1782.

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nach dem Charakter der Gegenden.
II.
Sanftmelancholischer Garten.

Bey so manchen Scenen der Vergänglichkeit, die auch bey dem schnellsten Vorü-
berschwinden Thränen oder doch Trübsinn zurücklassen, bey so vielfältigen Täu-
schungen unsrer Hoffnungen und Leidenschaften, scheint nichts dem Bedürfnisse unsrer
Natur angemessener, als zuweilen den Trost der Einsamkeit und die Weisheit stiller
Betrachtungen zu suchen. Wir lernen die seltne Kunst, bey uns selbst einzukehren,
wenn wir in der Welt keinen Platz oder keine Unterhaltung mehr für uns finden; und
glücklich genug, wer noch bey sich einkehren, noch bey sich selbst verweilen kann. Wir
nützen unsre Erfahrungen niemals mehr, als durch ruhiges Nachdenken über verlebte
Tage, entfernt von dem Geräusch der Gegenstände, die unsre Wünsche aufschwellten
und zernichteten, die uns mit Bezauberung an sich fesselten und zu Thränen verstießen.
Wir finden in der einsamen Wiedererinnerung nicht selten ein verlornes Gut wieder,
genießen im Bilde noch einmal eine Glückseligkeit, die auf ewig verschwand; mit
Phantasien voll süßer Schwermuth schwimmen wir der Vergangenheit auf ihrem
Strome nach. Gerne nimmt unser Herz, sobald wir uns dem Taumel der Welt ent-
rissen, Empfindungen der sanften Gattung wieder auf, Empfindungen, die der Adel
und das Glück der Menschheit sind; gerne überläßt es sich dem geheimen Zauber der
Zärtlichkeit, der Sympathie, der Wehmuth, der Betrübniß und andrer milden Ge-
fühle. Und viel, zu viel hat das Leben zur Unterhaltung dieser Gefühle. Ueberall
steht uns das Bild vergangener Jahre und verloschener Glückseligkeiten vor Augen;
hier eine verblühte Jugend, dort eine getrennte Freundschaft, eine gestorbene Liebe;
hier eine Reihe getäuschter Hoffnungen, Wünsche, die in Leidenschaften auflebten, und
Leidenschaften, die in Wünschen starben, dort ein Labyrinth von Ereignissen, dunkel,
verwickelt und doch hell am Ausgang; hier die Nothwendigkeit des Fortgangs auf dem
schlüpfrigen Pfade des Lebens, dort die Ungewißheit seines Ziels, die weite Länge künf-
tiger Bestimmungen, die das Herz ahndet und die Vernunft hofft, und doch die un-
durchdringliche Finsterniß der Decke, die vor unserm Blick über diese Bestimmungen
herabhängt.

Diese Betrachtungen, die trüben und doch erhellen, diese Empfindungen, die
erweichen und doch stärken, unterstützt die Natur sowohl durch tausend Erscheinungen
von Vergänglichkeit, als auch durch besondre Gegenden von einem einsamen und ern-
sten Charakter. Man hat die Eindrücke dieser Gegenden bey einer unverderbten Em-

pfindungs-
IV Band. L
nach dem Charakter der Gegenden.
II.
Sanftmelancholiſcher Garten.

Bey ſo manchen Scenen der Vergaͤnglichkeit, die auch bey dem ſchnellſten Voruͤ-
berſchwinden Thraͤnen oder doch Truͤbſinn zuruͤcklaſſen, bey ſo vielfaͤltigen Taͤu-
ſchungen unſrer Hoffnungen und Leidenſchaften, ſcheint nichts dem Beduͤrfniſſe unſrer
Natur angemeſſener, als zuweilen den Troſt der Einſamkeit und die Weisheit ſtiller
Betrachtungen zu ſuchen. Wir lernen die ſeltne Kunſt, bey uns ſelbſt einzukehren,
wenn wir in der Welt keinen Platz oder keine Unterhaltung mehr fuͤr uns finden; und
gluͤcklich genug, wer noch bey ſich einkehren, noch bey ſich ſelbſt verweilen kann. Wir
nuͤtzen unſre Erfahrungen niemals mehr, als durch ruhiges Nachdenken uͤber verlebte
Tage, entfernt von dem Geraͤuſch der Gegenſtaͤnde, die unſre Wuͤnſche aufſchwellten
und zernichteten, die uns mit Bezauberung an ſich feſſelten und zu Thraͤnen verſtießen.
Wir finden in der einſamen Wiedererinnerung nicht ſelten ein verlornes Gut wieder,
genießen im Bilde noch einmal eine Gluͤckſeligkeit, die auf ewig verſchwand; mit
Phantaſien voll ſuͤßer Schwermuth ſchwimmen wir der Vergangenheit auf ihrem
Strome nach. Gerne nimmt unſer Herz, ſobald wir uns dem Taumel der Welt ent-
riſſen, Empfindungen der ſanften Gattung wieder auf, Empfindungen, die der Adel
und das Gluͤck der Menſchheit ſind; gerne uͤberlaͤßt es ſich dem geheimen Zauber der
Zaͤrtlichkeit, der Sympathie, der Wehmuth, der Betruͤbniß und andrer milden Ge-
fuͤhle. Und viel, zu viel hat das Leben zur Unterhaltung dieſer Gefuͤhle. Ueberall
ſteht uns das Bild vergangener Jahre und verloſchener Gluͤckſeligkeiten vor Augen;
hier eine verbluͤhte Jugend, dort eine getrennte Freundſchaft, eine geſtorbene Liebe;
hier eine Reihe getaͤuſchter Hoffnungen, Wuͤnſche, die in Leidenſchaften auflebten, und
Leidenſchaften, die in Wuͤnſchen ſtarben, dort ein Labyrinth von Ereigniſſen, dunkel,
verwickelt und doch hell am Ausgang; hier die Nothwendigkeit des Fortgangs auf dem
ſchluͤpfrigen Pfade des Lebens, dort die Ungewißheit ſeines Ziels, die weite Laͤnge kuͤnf-
tiger Beſtimmungen, die das Herz ahndet und die Vernunft hofft, und doch die un-
durchdringliche Finſterniß der Decke, die vor unſerm Blick uͤber dieſe Beſtimmungen
herabhaͤngt.

Dieſe Betrachtungen, die truͤben und doch erhellen, dieſe Empfindungen, die
erweichen und doch ſtaͤrken, unterſtuͤtzt die Natur ſowohl durch tauſend Erſcheinungen
von Vergaͤnglichkeit, als auch durch beſondre Gegenden von einem einſamen und ern-
ſten Charakter. Man hat die Eindruͤcke dieſer Gegenden bey einer unverderbten Em-

pfindungs-
IV Band. L
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[81/0085] nach dem Charakter der Gegenden. II. Sanftmelancholiſcher Garten. Bey ſo manchen Scenen der Vergaͤnglichkeit, die auch bey dem ſchnellſten Voruͤ- berſchwinden Thraͤnen oder doch Truͤbſinn zuruͤcklaſſen, bey ſo vielfaͤltigen Taͤu- ſchungen unſrer Hoffnungen und Leidenſchaften, ſcheint nichts dem Beduͤrfniſſe unſrer Natur angemeſſener, als zuweilen den Troſt der Einſamkeit und die Weisheit ſtiller Betrachtungen zu ſuchen. Wir lernen die ſeltne Kunſt, bey uns ſelbſt einzukehren, wenn wir in der Welt keinen Platz oder keine Unterhaltung mehr fuͤr uns finden; und gluͤcklich genug, wer noch bey ſich einkehren, noch bey ſich ſelbſt verweilen kann. Wir nuͤtzen unſre Erfahrungen niemals mehr, als durch ruhiges Nachdenken uͤber verlebte Tage, entfernt von dem Geraͤuſch der Gegenſtaͤnde, die unſre Wuͤnſche aufſchwellten und zernichteten, die uns mit Bezauberung an ſich feſſelten und zu Thraͤnen verſtießen. Wir finden in der einſamen Wiedererinnerung nicht ſelten ein verlornes Gut wieder, genießen im Bilde noch einmal eine Gluͤckſeligkeit, die auf ewig verſchwand; mit Phantaſien voll ſuͤßer Schwermuth ſchwimmen wir der Vergangenheit auf ihrem Strome nach. Gerne nimmt unſer Herz, ſobald wir uns dem Taumel der Welt ent- riſſen, Empfindungen der ſanften Gattung wieder auf, Empfindungen, die der Adel und das Gluͤck der Menſchheit ſind; gerne uͤberlaͤßt es ſich dem geheimen Zauber der Zaͤrtlichkeit, der Sympathie, der Wehmuth, der Betruͤbniß und andrer milden Ge- fuͤhle. Und viel, zu viel hat das Leben zur Unterhaltung dieſer Gefuͤhle. Ueberall ſteht uns das Bild vergangener Jahre und verloſchener Gluͤckſeligkeiten vor Augen; hier eine verbluͤhte Jugend, dort eine getrennte Freundſchaft, eine geſtorbene Liebe; hier eine Reihe getaͤuſchter Hoffnungen, Wuͤnſche, die in Leidenſchaften auflebten, und Leidenſchaften, die in Wuͤnſchen ſtarben, dort ein Labyrinth von Ereigniſſen, dunkel, verwickelt und doch hell am Ausgang; hier die Nothwendigkeit des Fortgangs auf dem ſchluͤpfrigen Pfade des Lebens, dort die Ungewißheit ſeines Ziels, die weite Laͤnge kuͤnf- tiger Beſtimmungen, die das Herz ahndet und die Vernunft hofft, und doch die un- durchdringliche Finſterniß der Decke, die vor unſerm Blick uͤber dieſe Beſtimmungen herabhaͤngt. Dieſe Betrachtungen, die truͤben und doch erhellen, dieſe Empfindungen, die erweichen und doch ſtaͤrken, unterſtuͤtzt die Natur ſowohl durch tauſend Erſcheinungen von Vergaͤnglichkeit, als auch durch beſondre Gegenden von einem einſamen und ern- ſten Charakter. Man hat die Eindruͤcke dieſer Gegenden bey einer unverderbten Em- pfindungs- IV Band. L

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Zitationshilfe: Hirschfeld, Christian Cay Lorenz: Theorie der Gartenkunst. Bd. 4. Leipzig, 1782, S. 81. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/hirschfeld_gartenkunst4_1782/85>, abgerufen am 30.04.2024.