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Kürnberger, Ferdinand: Der Amerika-Müde. Frankfurt (Main), 1855.

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endlichen Bilde ihres unendlichen Ichs, wie von einem Zerrbilde, hin¬
weg, um in höheren, kühneren Zielen der Sehnsucht sich würdiger zu
genügen; diese erreicht, beleidigt sie von neuem die kleinliche Formel
für einen großen Sinn: so schreiten sie von Unbefriedigung zu Un¬
befriedigung die erhabenen Pfade der Selbstqual zu Ende, bis sie am
Markstein der Verzweiflung oder Vergötterung das Bewußtsein er¬
ringen, daß Irdisches und Ewiges nimmer sich decken, daß nichts Ir¬
disches wünschenswerth!

Diesen Naturzug des menschlichen Herzens müssen wir uns gegen¬
wärtig halten, wenn wir begreifen wollen, mit welchen Gefühlen Moor¬
feld Tags nach der Landauction in Anhorst's Blockhütte erwachte. Er
hatte zum erstenmal auf dem Seinigen geruht, er stand zum ersten¬
male im Seinigen auf. Aber Alles in ihm widerrief diese Thatsache.
Das Wort "Urwald" tönte fremd und abschreckend im Herzen. Mit
Anstrengung besann er sich jetzt auf den Ideengang, den die Entwick¬
lung dieses Wunsches in Europa genommen und -- er fand den Faden
nicht mehr. Er fühlte sich tief unglücklich. Es war ihm, als sei er
kein moralisches Wesen, sondern ein Mechanismus, dessen Bestand¬
theile eine fremde Hand auseinandergelegt, und er selbst könne sie
nicht wieder zusammensetzen. Er wußte nicht, habe er in Europa
geirrt, oder irre er heute. In seinem Gemüthe war plötzlich der
Grundton verstummt, auf welchem sein Ich und der Urwald sonst im
Accorde gestimmt. Er sah seinen Wunsch vor sich nicht wie einen ver¬
trauten, langgenährten Umgang, sondern wie einen zweideutigen Ge¬
sellschafter, mit dem man im Taumel Brüderschaft gemacht, und der
bei ernüchterten Sinnen in Verlegenheit setzt. Alles ist Mißton hier,
den angeklungenen Ton fortzusetzen und auch von ihm abzuspringen.
Nach beiden Seiten hin fehlt die Wahrheit, -- und so findet sich
unser Freund heute in einem Verhältnisse, das eigentlich eine Unmög¬
lichkeit ist.

Als er in früher Morgenstunde vor die Hütte trat, fehlte wenig,
daß er nach seinem gesattelten Pferde gerufen. Er fühlte sich wie
ein städtischer Spaziergänger, der eine Nacht auf dem Lande zuge¬
bracht und im jungen Tagesstrahl fröhlich davon fliegt. Warum er
hier weilen sollte, war ihm unverständlich. Er hatte zum erstenmale
eine dumpfe Ahnung davon, was es heiße, den europäischen Cultur¬

endlichen Bilde ihres unendlichen Ichs, wie von einem Zerrbilde, hin¬
weg, um in höheren, kühneren Zielen der Sehnſucht ſich würdiger zu
genügen; dieſe erreicht, beleidigt ſie von neuem die kleinliche Formel
für einen großen Sinn: ſo ſchreiten ſie von Unbefriedigung zu Un¬
befriedigung die erhabenen Pfade der Selbſtqual zu Ende, bis ſie am
Markſtein der Verzweiflung oder Vergötterung das Bewußtſein er¬
ringen, daß Irdiſches und Ewiges nimmer ſich decken, daß nichts Ir¬
diſches wünſchenswerth!

Dieſen Naturzug des menſchlichen Herzens müſſen wir uns gegen¬
wärtig halten, wenn wir begreifen wollen, mit welchen Gefühlen Moor¬
feld Tags nach der Landauction in Anhorſt's Blockhütte erwachte. Er
hatte zum erſtenmal auf dem Seinigen geruht, er ſtand zum erſten¬
male im Seinigen auf. Aber Alles in ihm widerrief dieſe Thatſache.
Das Wort „Urwald“ tönte fremd und abſchreckend im Herzen. Mit
Anſtrengung beſann er ſich jetzt auf den Ideengang, den die Entwick¬
lung dieſes Wunſches in Europa genommen und — er fand den Faden
nicht mehr. Er fühlte ſich tief unglücklich. Es war ihm, als ſei er
kein moraliſches Weſen, ſondern ein Mechanismus, deſſen Beſtand¬
theile eine fremde Hand auseinandergelegt, und er ſelbſt könne ſie
nicht wieder zuſammenſetzen. Er wußte nicht, habe er in Europa
geirrt, oder irre er heute. In ſeinem Gemüthe war plötzlich der
Grundton verſtummt, auf welchem ſein Ich und der Urwald ſonſt im
Accorde geſtimmt. Er ſah ſeinen Wunſch vor ſich nicht wie einen ver¬
trauten, langgenährten Umgang, ſondern wie einen zweideutigen Ge¬
ſellſchafter, mit dem man im Taumel Brüderſchaft gemacht, und der
bei ernüchterten Sinnen in Verlegenheit ſetzt. Alles iſt Mißton hier,
den angeklungenen Ton fortzuſetzen und auch von ihm abzuſpringen.
Nach beiden Seiten hin fehlt die Wahrheit, — und ſo findet ſich
unſer Freund heute in einem Verhältniſſe, das eigentlich eine Unmög¬
lichkeit iſt.

Als er in früher Morgenſtunde vor die Hütte trat, fehlte wenig,
daß er nach ſeinem geſattelten Pferde gerufen. Er fühlte ſich wie
ein ſtädtiſcher Spaziergänger, der eine Nacht auf dem Lande zuge¬
bracht und im jungen Tagesſtrahl fröhlich davon fliegt. Warum er
hier weilen ſollte, war ihm unverſtändlich. Er hatte zum erſtenmale
eine dumpfe Ahnung davon, was es heiße, den europäiſchen Cultur¬

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[316/0334] endlichen Bilde ihres unendlichen Ichs, wie von einem Zerrbilde, hin¬ weg, um in höheren, kühneren Zielen der Sehnſucht ſich würdiger zu genügen; dieſe erreicht, beleidigt ſie von neuem die kleinliche Formel für einen großen Sinn: ſo ſchreiten ſie von Unbefriedigung zu Un¬ befriedigung die erhabenen Pfade der Selbſtqual zu Ende, bis ſie am Markſtein der Verzweiflung oder Vergötterung das Bewußtſein er¬ ringen, daß Irdiſches und Ewiges nimmer ſich decken, daß nichts Ir¬ diſches wünſchenswerth! Dieſen Naturzug des menſchlichen Herzens müſſen wir uns gegen¬ wärtig halten, wenn wir begreifen wollen, mit welchen Gefühlen Moor¬ feld Tags nach der Landauction in Anhorſt's Blockhütte erwachte. Er hatte zum erſtenmal auf dem Seinigen geruht, er ſtand zum erſten¬ male im Seinigen auf. Aber Alles in ihm widerrief dieſe Thatſache. Das Wort „Urwald“ tönte fremd und abſchreckend im Herzen. Mit Anſtrengung beſann er ſich jetzt auf den Ideengang, den die Entwick¬ lung dieſes Wunſches in Europa genommen und — er fand den Faden nicht mehr. Er fühlte ſich tief unglücklich. Es war ihm, als ſei er kein moraliſches Weſen, ſondern ein Mechanismus, deſſen Beſtand¬ theile eine fremde Hand auseinandergelegt, und er ſelbſt könne ſie nicht wieder zuſammenſetzen. Er wußte nicht, habe er in Europa geirrt, oder irre er heute. In ſeinem Gemüthe war plötzlich der Grundton verſtummt, auf welchem ſein Ich und der Urwald ſonſt im Accorde geſtimmt. Er ſah ſeinen Wunſch vor ſich nicht wie einen ver¬ trauten, langgenährten Umgang, ſondern wie einen zweideutigen Ge¬ ſellſchafter, mit dem man im Taumel Brüderſchaft gemacht, und der bei ernüchterten Sinnen in Verlegenheit ſetzt. Alles iſt Mißton hier, den angeklungenen Ton fortzuſetzen und auch von ihm abzuſpringen. Nach beiden Seiten hin fehlt die Wahrheit, — und ſo findet ſich unſer Freund heute in einem Verhältniſſe, das eigentlich eine Unmög¬ lichkeit iſt. Als er in früher Morgenſtunde vor die Hütte trat, fehlte wenig, daß er nach ſeinem geſattelten Pferde gerufen. Er fühlte ſich wie ein ſtädtiſcher Spaziergänger, der eine Nacht auf dem Lande zuge¬ bracht und im jungen Tagesſtrahl fröhlich davon fliegt. Warum er hier weilen ſollte, war ihm unverſtändlich. Er hatte zum erſtenmale eine dumpfe Ahnung davon, was es heiße, den europäiſchen Cultur¬

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Zitationshilfe: Kürnberger, Ferdinand: Der Amerika-Müde. Frankfurt (Main), 1855, S. 316. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kuernberger_amerikamuede_1855/334>, abgerufen am 26.04.2024.