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[Pestalozzi, Johann Heinrich]: Lienhard und Gertrud. Bd. 4. Frankfurt (Main) u. a., 1787.

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anders können als denken, es sey nicht so gar schlimm
mit diesem Leben; aber wann sie dann älter ge-
worden, und keines zu nichts zu brauchen gewe-
sen, und man keinem nichts habe anvertrauen, und
auf keines in nichts sich habe verlassen können,
dann haben einen die rothen Backen nicht mehr
verblendet, sie seyen aber auch von sich selber wieder
weggekommen; und Kinder, die im zwölften Jahre
ausgesehen wie Engel, und gutmüthig gewesen wie
Lämmer, seyen im 16. bis 18ten geworden, daß
man sie nicht mehr gekennt, und im zwanzigsten
wie eingefleischte Teufel. So weit gieng die Ueber-
einstimmung der Aussagen der Bauern mit den
Grundsätzen des Lieutenants.

Der Lieutenant aber verstund aus den Bauern
aller Arten ihre wahre Meynung über das, was er
wunderte, so gut herauszulocken, als ein Apothe-
ker aus Knochen, Kräutern und Wurzeln, den
Geist, welchen er heraus haben will. Er fand
aber auch meistens etwas ganz anders bey ihnen,
als z. Ex. ein Pfarrer, der sich die schlauen Buben
etwas von dem Wohlgefallen des lieben Gottes an
der Keuschheit, und den übrigen christlichen Tu-
genden vorheucheln läßt, wovon sie kein Wort glau-
ben; oder ein Junker, der mit Schloßeifer mit ihm
von der schuldigen Treue der Zehendknechte und
Gefälleintreibern redet, und auch so dumm ist zu
glauben, was sie ihm darüber antworten; welcher

anders koͤnnen als denken, es ſey nicht ſo gar ſchlimm
mit dieſem Leben; aber wann ſie dann aͤlter ge-
worden, und keines zu nichts zu brauchen gewe-
ſen, und man keinem nichts habe anvertrauen, und
auf keines in nichts ſich habe verlaſſen koͤnnen,
dann haben einen die rothen Backen nicht mehr
verblendet, ſie ſeyen aber auch von ſich ſelber wieder
weggekommen; und Kinder, die im zwoͤlften Jahre
ausgeſehen wie Engel, und gutmuͤthig geweſen wie
Laͤmmer, ſeyen im 16. bis 18ten geworden, daß
man ſie nicht mehr gekennt, und im zwanzigſten
wie eingefleiſchte Teufel. So weit gieng die Ueber-
einſtimmung der Ausſagen der Bauern mit den
Grundſaͤtzen des Lieutenants.

Der Lieutenant aber verſtund aus den Bauern
aller Arten ihre wahre Meynung uͤber das, was er
wunderte, ſo gut herauszulocken, als ein Apothe-
ker aus Knochen, Kraͤutern und Wurzeln, den
Geiſt, welchen er heraus haben will. Er fand
aber auch meiſtens etwas ganz anders bey ihnen,
als z. Ex. ein Pfarrer, der ſich die ſchlauen Buben
etwas von dem Wohlgefallen des lieben Gottes an
der Keuſchheit, und den uͤbrigen chriſtlichen Tu-
genden vorheucheln laͤßt, wovon ſie kein Wort glau-
ben; oder ein Junker, der mit Schloßeifer mit ihm
von der ſchuldigen Treue der Zehendknechte und
Gefaͤlleintreibern redet, und auch ſo dumm iſt zu
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[178/0196] anders koͤnnen als denken, es ſey nicht ſo gar ſchlimm mit dieſem Leben; aber wann ſie dann aͤlter ge- worden, und keines zu nichts zu brauchen gewe- ſen, und man keinem nichts habe anvertrauen, und auf keines in nichts ſich habe verlaſſen koͤnnen, dann haben einen die rothen Backen nicht mehr verblendet, ſie ſeyen aber auch von ſich ſelber wieder weggekommen; und Kinder, die im zwoͤlften Jahre ausgeſehen wie Engel, und gutmuͤthig geweſen wie Laͤmmer, ſeyen im 16. bis 18ten geworden, daß man ſie nicht mehr gekennt, und im zwanzigſten wie eingefleiſchte Teufel. So weit gieng die Ueber- einſtimmung der Ausſagen der Bauern mit den Grundſaͤtzen des Lieutenants. Der Lieutenant aber verſtund aus den Bauern aller Arten ihre wahre Meynung uͤber das, was er wunderte, ſo gut herauszulocken, als ein Apothe- ker aus Knochen, Kraͤutern und Wurzeln, den Geiſt, welchen er heraus haben will. Er fand aber auch meiſtens etwas ganz anders bey ihnen, als z. Ex. ein Pfarrer, der ſich die ſchlauen Buben etwas von dem Wohlgefallen des lieben Gottes an der Keuſchheit, und den uͤbrigen chriſtlichen Tu- genden vorheucheln laͤßt, wovon ſie kein Wort glau- ben; oder ein Junker, der mit Schloßeifer mit ihm von der ſchuldigen Treue der Zehendknechte und Gefaͤlleintreibern redet, und auch ſo dumm iſt zu glauben, was ſie ihm daruͤber antworten; welcher

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Zitationshilfe: [Pestalozzi, Johann Heinrich]: Lienhard und Gertrud. Bd. 4. Frankfurt (Main) u. a., 1787, S. 178. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/pestalozzi_lienhard04_1787/196>, abgerufen am 30.04.2024.