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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 3: Bis zur Juli-Revolution. Leipzig, 1885.

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Die hessische Verfassung.

Im Ganzen entsprach das hessische Grundgesetz den Bedürfnissen des
Landes. Auch die preußische Regierung erkannte dies an und sprach dem
Großherzog und seinem treuen Volke ihren warmen Glückwunsch aus.
"Durch die glückliche Wendung, welche diese große Angelegenheit genommen
-- schrieb Ancillon -- ist das monarchische Princip, das Grundprincip
aller deutschen ständischen Verfassungen, recht erhalten worden, indem
S. K. Hoheit dieses Staatsgrundgesetz Höchstselbst Ihren Ständen gegeben
haben und die Freiheit Ihres souveränen Willens und die hohe Weisheit
Ihrer Beschlüsse durch das was sie den Wünschen der Kammern zugestan-
den wie durch das was sie denselben vorenthielten gleich bewährt haben."*)
Der Geist der Eintracht, der diesen Landtag beseelte, blieb ungeschwächt
bis zum Schlusse der Session, im Sommer 1821; die Honigmonde des
constitutionellen Lebens verliefen nirgends so ungetrübt wie in Darm-
stadt. Man vereinbarte noch einige wichtige Gesetze über die Ablösung
der bäuerlichen Lasten, und seitdem ward die Entlastung des Bodens so
eifrig gefördert, daß Hessen früher als alle anderen deutschen Staaten
zur vollständigen wirthschaftlichen Befreiung des Landvolkes gelangte.
Mit mächtigem Selbstgefühle blickte der Darmstädter von der Höhe seiner
modernen Lebensverhältnisse auf die kurhessischen Nachbarn hernieder
und meinte: wenn die Welt untergeht, dann wandern wir nach Kur-
hessen aus, denn dort ist man immer fünfzig Jahre hinter der Zeit
zurück. --

Dergestalt war in ganz Süddeutschland die constitutionelle Staats-
form zur Herrschaft gelangt, und so gewiß diese Wendung der Dinge
nothwendig und heilsam war, ebenso gewiß bereitete sie der Einigung
der Nation ernste Gefahren. Erst durch Napoleon und die Siege des
Rheinbunds war in den zerstückelten Gebieten des Südens ein Gemein-
gefühl, ein Bewußtsein oberdeutscher Eigenart, das im achtzehnten Jahr-
hundert noch geschlummert hatte, erweckt worden. Jetzt verschärfte sich
dieser Sondergeist, seit man anfing die schöne Heimath als das classische
Land deutscher Freiheit zu preisen und die großen nationalen Erinne-
rungen des waffenstarken Nordens zu mißachten. Die Kluft zwischen
Nord und Süd verbreiterte sich während der nächsten Jahre, und erst
nach schmerzlichen Enttäuschungen erkannten die Oberdeutschen, daß nur
die Einheit Deutschlands ihnen die politische Freiheit sichern konnte. --



*) Aucillon an Senden, 10. Jan. 1821.
5*
Die heſſiſche Verfaſſung.

Im Ganzen entſprach das heſſiſche Grundgeſetz den Bedürfniſſen des
Landes. Auch die preußiſche Regierung erkannte dies an und ſprach dem
Großherzog und ſeinem treuen Volke ihren warmen Glückwunſch aus.
„Durch die glückliche Wendung, welche dieſe große Angelegenheit genommen
— ſchrieb Ancillon — iſt das monarchiſche Princip, das Grundprincip
aller deutſchen ſtändiſchen Verfaſſungen, recht erhalten worden, indem
S. K. Hoheit dieſes Staatsgrundgeſetz Höchſtſelbſt Ihren Ständen gegeben
haben und die Freiheit Ihres ſouveränen Willens und die hohe Weisheit
Ihrer Beſchlüſſe durch das was ſie den Wünſchen der Kammern zugeſtan-
den wie durch das was ſie denſelben vorenthielten gleich bewährt haben.“*)
Der Geiſt der Eintracht, der dieſen Landtag beſeelte, blieb ungeſchwächt
bis zum Schluſſe der Seſſion, im Sommer 1821; die Honigmonde des
conſtitutionellen Lebens verliefen nirgends ſo ungetrübt wie in Darm-
ſtadt. Man vereinbarte noch einige wichtige Geſetze über die Ablöſung
der bäuerlichen Laſten, und ſeitdem ward die Entlaſtung des Bodens ſo
eifrig gefördert, daß Heſſen früher als alle anderen deutſchen Staaten
zur vollſtändigen wirthſchaftlichen Befreiung des Landvolkes gelangte.
Mit mächtigem Selbſtgefühle blickte der Darmſtädter von der Höhe ſeiner
modernen Lebensverhältniſſe auf die kurheſſiſchen Nachbarn hernieder
und meinte: wenn die Welt untergeht, dann wandern wir nach Kur-
heſſen aus, denn dort iſt man immer fünfzig Jahre hinter der Zeit
zurück. —

Dergeſtalt war in ganz Süddeutſchland die conſtitutionelle Staats-
form zur Herrſchaft gelangt, und ſo gewiß dieſe Wendung der Dinge
nothwendig und heilſam war, ebenſo gewiß bereitete ſie der Einigung
der Nation ernſte Gefahren. Erſt durch Napoleon und die Siege des
Rheinbunds war in den zerſtückelten Gebieten des Südens ein Gemein-
gefühl, ein Bewußtſein oberdeutſcher Eigenart, das im achtzehnten Jahr-
hundert noch geſchlummert hatte, erweckt worden. Jetzt verſchärfte ſich
dieſer Sondergeiſt, ſeit man anfing die ſchöne Heimath als das claſſiſche
Land deutſcher Freiheit zu preiſen und die großen nationalen Erinne-
rungen des waffenſtarken Nordens zu mißachten. Die Kluft zwiſchen
Nord und Süd verbreiterte ſich während der nächſten Jahre, und erſt
nach ſchmerzlichen Enttäuſchungen erkannten die Oberdeutſchen, daß nur
die Einheit Deutſchlands ihnen die politiſche Freiheit ſichern konnte. —



*) Aucillon an Senden, 10. Jan. 1821.
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[67/0083] Die heſſiſche Verfaſſung. Im Ganzen entſprach das heſſiſche Grundgeſetz den Bedürfniſſen des Landes. Auch die preußiſche Regierung erkannte dies an und ſprach dem Großherzog und ſeinem treuen Volke ihren warmen Glückwunſch aus. „Durch die glückliche Wendung, welche dieſe große Angelegenheit genommen — ſchrieb Ancillon — iſt das monarchiſche Princip, das Grundprincip aller deutſchen ſtändiſchen Verfaſſungen, recht erhalten worden, indem S. K. Hoheit dieſes Staatsgrundgeſetz Höchſtſelbſt Ihren Ständen gegeben haben und die Freiheit Ihres ſouveränen Willens und die hohe Weisheit Ihrer Beſchlüſſe durch das was ſie den Wünſchen der Kammern zugeſtan- den wie durch das was ſie denſelben vorenthielten gleich bewährt haben.“ *) Der Geiſt der Eintracht, der dieſen Landtag beſeelte, blieb ungeſchwächt bis zum Schluſſe der Seſſion, im Sommer 1821; die Honigmonde des conſtitutionellen Lebens verliefen nirgends ſo ungetrübt wie in Darm- ſtadt. Man vereinbarte noch einige wichtige Geſetze über die Ablöſung der bäuerlichen Laſten, und ſeitdem ward die Entlaſtung des Bodens ſo eifrig gefördert, daß Heſſen früher als alle anderen deutſchen Staaten zur vollſtändigen wirthſchaftlichen Befreiung des Landvolkes gelangte. Mit mächtigem Selbſtgefühle blickte der Darmſtädter von der Höhe ſeiner modernen Lebensverhältniſſe auf die kurheſſiſchen Nachbarn hernieder und meinte: wenn die Welt untergeht, dann wandern wir nach Kur- heſſen aus, denn dort iſt man immer fünfzig Jahre hinter der Zeit zurück. — Dergeſtalt war in ganz Süddeutſchland die conſtitutionelle Staats- form zur Herrſchaft gelangt, und ſo gewiß dieſe Wendung der Dinge nothwendig und heilſam war, ebenſo gewiß bereitete ſie der Einigung der Nation ernſte Gefahren. Erſt durch Napoleon und die Siege des Rheinbunds war in den zerſtückelten Gebieten des Südens ein Gemein- gefühl, ein Bewußtſein oberdeutſcher Eigenart, das im achtzehnten Jahr- hundert noch geſchlummert hatte, erweckt worden. Jetzt verſchärfte ſich dieſer Sondergeiſt, ſeit man anfing die ſchöne Heimath als das claſſiſche Land deutſcher Freiheit zu preiſen und die großen nationalen Erinne- rungen des waffenſtarken Nordens zu mißachten. Die Kluft zwiſchen Nord und Süd verbreiterte ſich während der nächſten Jahre, und erſt nach ſchmerzlichen Enttäuſchungen erkannten die Oberdeutſchen, daß nur die Einheit Deutſchlands ihnen die politiſche Freiheit ſichern konnte. — *) Aucillon an Senden, 10. Jan. 1821. 5*

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 3: Bis zur Juli-Revolution. Leipzig, 1885, S. 67. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte03_1885/83>, abgerufen am 30.04.2024.